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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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des physiognomischen Beobachtungsgeistes.

Die erstere befindet sich im I. Theil, zwischen der 190. und 191. Seite. Es wird dar-
über gesagt: "Ein sehr gerechter Mann, wackerer Hausvater, verständig ohne Aufklärung, Cul-
"tur und Geschmack -- zur Hypochondrie geneigt." -- Diese Silhouette nun ward für die
zweyte Silhouette, die wir vor uns haben, gehalten; und wie verschieden ist das Original der
zweyten vom Originale der ersten, obgleich sie in der Hypochondrie sich ähnlich seyn mögen.
Der zweyte -- wie viel fester, und kriegerischer, wenn ich so sagen darf! "Ein sehr offner Kopf,
schreibt mir ein Freund, der ihn genau kennt -- "ein Mann, der unendlich viel weiß, zumal
"aus der Historie, und der französischen Litteratur eben so kundig, als der belesenste Franzose;
"auch ein Mann von überaus vielem Witze, und äusserst unterhaltend, wenn er bey guter Laune
"ist -- Er vergißt von allem, was er liest, kein Wort!" -- Wenn ich nichts von diesem
Manne gewußt hätte -- so hätt' ich die vorgelegte Silhouette -- so beurtheilt: "Viel Ver-
"stand -- (die sonst mir bekannten Zeichen des guten Gedächtnisses -- sind' ich nicht; also müs-
"sen noch andre seyn? welche? -- Lehret sie mich, Freunde der Menschheit! helft sie mir su-
"chen!) Viel Verstand (hätt' ich gesagt) erstaunliche -- bis zum Eigensinn forttreibende Festig-
"keit! hochfliegender Muth! mit viel Grämeley vermischt" .... Den attischen Witz hätt' ich
in dem Profile nicht gesehen -- vermuthlich aber in Aug und Lippe der Natur -- Doch da-
von ist hier eigentlich die Rede nicht. Lieber wollen wir diese beyden Gesichter vergleichen.
Die Stirne 1. ist sanfter, aber nicht so scharf wie 2. -- und nicht so scharfsinnig! Das Ecki-
ge -- des Untertheils des Gesichts in 2. zeigt mehr Hitze, Thätigkeit, als das Flächere dieses
Theils in 1. auch der 2. Kopf im Ganzen zeigt mehr festes, determinirtes, rasches Wesen.



Vier ähnliche Umrisse von demselben Kopfe eines jungen Christus.
Vierte Tafel. J. C. a a.

Freylich ein sehr un- oder antiidealischer Christus, der unten noch zweymal schattirt, und zum
Theil besser vorkommen wird. Das erste Original ist ein Kopf in Lebensgröße, herrlich ge-
mahlt, und sentirt, (er befindet sich in den Händen Herrn Burkhards, eines trefflichen Zer-
gliederers und Freundes -- des großen unnachahmlichen Urbildes) was wir vor uns haben,

mag
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des phyſiognomiſchen Beobachtungsgeiſtes.

Die erſtere befindet ſich im I. Theil, zwiſchen der 190. und 191. Seite. Es wird dar-
uͤber geſagt: „Ein ſehr gerechter Mann, wackerer Hausvater, verſtaͤndig ohne Aufklaͤrung, Cul-
„tur und Geſchmack — zur Hypochondrie geneigt.“ — Dieſe Silhouette nun ward fuͤr die
zweyte Silhouette, die wir vor uns haben, gehalten; und wie verſchieden iſt das Original der
zweyten vom Originale der erſten, obgleich ſie in der Hypochondrie ſich aͤhnlich ſeyn moͤgen.
Der zweyte — wie viel feſter, und kriegeriſcher, wenn ich ſo ſagen darf! „Ein ſehr offner Kopf,
ſchreibt mir ein Freund, der ihn genau kennt — „ein Mann, der unendlich viel weiß, zumal
„aus der Hiſtorie, und der franzoͤſiſchen Litteratur eben ſo kundig, als der beleſenſte Franzoſe;
„auch ein Mann von uͤberaus vielem Witze, und aͤuſſerſt unterhaltend, wenn er bey guter Laune
„iſt — Er vergißt von allem, was er lieſt, kein Wort!“ — Wenn ich nichts von dieſem
Manne gewußt haͤtte — ſo haͤtt’ ich die vorgelegte Silhouette — ſo beurtheilt: „Viel Ver-
„ſtand — (die ſonſt mir bekannten Zeichen des guten Gedaͤchtniſſes — ſind’ ich nicht; alſo muͤſ-
„ſen noch andre ſeyn? welche? — Lehret ſie mich, Freunde der Menſchheit! helft ſie mir ſu-
„chen!) Viel Verſtand (haͤtt’ ich geſagt) erſtaunliche — bis zum Eigenſinn forttreibende Feſtig-
„keit! hochfliegender Muth! mit viel Graͤmeley vermiſcht“ .... Den attiſchen Witz haͤtt’ ich
in dem Profile nicht geſehen — vermuthlich aber in Aug und Lippe der Natur — Doch da-
von iſt hier eigentlich die Rede nicht. Lieber wollen wir dieſe beyden Geſichter vergleichen.
Die Stirne 1. iſt ſanfter, aber nicht ſo ſcharf wie 2. — und nicht ſo ſcharfſinnig! Das Ecki-
ge — des Untertheils des Geſichts in 2. zeigt mehr Hitze, Thaͤtigkeit, als das Flaͤchere dieſes
Theils in 1. auch der 2. Kopf im Ganzen zeigt mehr feſtes, determinirtes, raſches Weſen.



Vier aͤhnliche Umriſſe von demſelben Kopfe eines jungen Chriſtus.
Vierte Tafel. J. C. a a.

Freylich ein ſehr un- oder antiidealiſcher Chriſtus, der unten noch zweymal ſchattirt, und zum
Theil beſſer vorkommen wird. Das erſte Original iſt ein Kopf in Lebensgroͤße, herrlich ge-
mahlt, und ſentirt, (er befindet ſich in den Haͤnden Herrn Burkhards, eines trefflichen Zer-
gliederers und Freundes — des großen unnachahmlichen Urbildes) was wir vor uns haben,

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[21/0043] des phyſiognomiſchen Beobachtungsgeiſtes. Die erſtere befindet ſich im I. Theil, zwiſchen der 190. und 191. Seite. Es wird dar- uͤber geſagt: „Ein ſehr gerechter Mann, wackerer Hausvater, verſtaͤndig ohne Aufklaͤrung, Cul- „tur und Geſchmack — zur Hypochondrie geneigt.“ — Dieſe Silhouette nun ward fuͤr die zweyte Silhouette, die wir vor uns haben, gehalten; und wie verſchieden iſt das Original der zweyten vom Originale der erſten, obgleich ſie in der Hypochondrie ſich aͤhnlich ſeyn moͤgen. Der zweyte — wie viel feſter, und kriegeriſcher, wenn ich ſo ſagen darf! „Ein ſehr offner Kopf, ſchreibt mir ein Freund, der ihn genau kennt — „ein Mann, der unendlich viel weiß, zumal „aus der Hiſtorie, und der franzoͤſiſchen Litteratur eben ſo kundig, als der beleſenſte Franzoſe; „auch ein Mann von uͤberaus vielem Witze, und aͤuſſerſt unterhaltend, wenn er bey guter Laune „iſt — Er vergißt von allem, was er lieſt, kein Wort!“ — Wenn ich nichts von dieſem Manne gewußt haͤtte — ſo haͤtt’ ich die vorgelegte Silhouette — ſo beurtheilt: „Viel Ver- „ſtand — (die ſonſt mir bekannten Zeichen des guten Gedaͤchtniſſes — ſind’ ich nicht; alſo muͤſ- „ſen noch andre ſeyn? welche? — Lehret ſie mich, Freunde der Menſchheit! helft ſie mir ſu- „chen!) Viel Verſtand (haͤtt’ ich geſagt) erſtaunliche — bis zum Eigenſinn forttreibende Feſtig- „keit! hochfliegender Muth! mit viel Graͤmeley vermiſcht“ .... Den attiſchen Witz haͤtt’ ich in dem Profile nicht geſehen — vermuthlich aber in Aug und Lippe der Natur — Doch da- von iſt hier eigentlich die Rede nicht. Lieber wollen wir dieſe beyden Geſichter vergleichen. Die Stirne 1. iſt ſanfter, aber nicht ſo ſcharf wie 2. — und nicht ſo ſcharfſinnig! Das Ecki- ge — des Untertheils des Geſichts in 2. zeigt mehr Hitze, Thaͤtigkeit, als das Flaͤchere dieſes Theils in 1. auch der 2. Kopf im Ganzen zeigt mehr feſtes, determinirtes, raſches Weſen. Vier aͤhnliche Umriſſe von demſelben Kopfe eines jungen Chriſtus. Vierte Tafel. J. C. a a. Freylich ein ſehr un- oder antiidealiſcher Chriſtus, der unten noch zweymal ſchattirt, und zum Theil beſſer vorkommen wird. Das erſte Original iſt ein Kopf in Lebensgroͤße, herrlich ge- mahlt, und ſentirt, (er befindet ſich in den Haͤnden Herrn Burkhards, eines trefflichen Zer- gliederers und Freundes — des großen unnachahmlichen Urbildes) was wir vor uns haben, mag C 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/43>, abgerufen am 29.03.2024.