Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

Bild:
<< vorherige Seite
XXX. Fragment.
Achte und neunte Tafel. C ... s. de St. ... g.

Die Jünglinge, deren Bilder und Silhouetten wir hier vor uns haben, sind die ersten Men-
schen, die mir zur physiognomischen Beschreibung saßen und standen, wie, wer sich mahlen läßt,
dem Mahler sitzt.

Jch kannte sie sonst, die edeln -- und ich machte den ersten Versuch, nach der Natur
und mit aller sonstigen Kenntniß ihren Charakter zu beobachten und zu beschreiben. --

Hier ist die Beschreibung des ganzen Menschen -- Erstlich von 1. und 3.

Siehe den blühenden Jüngling von 25. Jahren! das leichtschwebende, schwimmende,
elastische Geschöpfe! Es liegt nicht; es steht nicht; es stemmt sich nicht; es fliegt nicht; es schwebt
oder schwimmt. Zu lebendig, um zu ruhen; zu locker, um fest zu stehen; zu schwer und zu weich,
um zu fliegen.

Ein schwebendes also, das die Erde nicht berührt! Jn seinem ganzen Umrisse keine völ-
lig schlaffe Linie, aber auch keine gerade, keine gespannte, keine fest gewölbte, hart gebogene; --
kein eckigter Einschnitt; kein felßigtes Vorgebürge der Stirn; keine Härte; keine Steifigkeit;
keine zürnende Rohigkeit; keine drohende Obermacht; kein eiserner Muth -- elastisch reizbarer
wohl, aber kein eiserner; kein fester, forschender Tiefsinn; keine langsame Ueberlegung, oder
kluge Bedächtlichkeit; nirgends der Raisonneur mit der festgehaltnen Wagschaale in der einen,
dem Schwerte in der andern Hand, und doch auch nicht die mindeste Steifheit im Blicke und
Urtheile! und doch die völligste Geradheit des Verstandes, oder vielmehr der unbefleckteste
Wahrheitssinn! Jmmer der innige Empfinder, nie der tiefe Ausdenker; nie der Erfinder, nie
der prüfende Entwickler der so schnellerblickten, schnellerkannten, schnellgeliebten, schnellergriff-
nen Wahrheit .... Ewiger Schweber! Seher! Jdealisirer! Verschönerer! -- Gestalter al-
ler seiner Jdeen! Jmmer halbtrunkener Dichter, der sieht, was er sehen will; -- nicht der
trübsinnig schmachtende -- nicht der hartzermalmende; -- aber der hohe, edle, gewaltige! der
mit gemäßigtem "Sonnendurst" in den Regionen der Luft hin und herwallt, über sich strebt, und

wieder
XXX. Fragment.
Achte und neunte Tafel. C ... s. de St. ... g.

Die Juͤnglinge, deren Bilder und Silhouetten wir hier vor uns haben, ſind die erſten Men-
ſchen, die mir zur phyſiognomiſchen Beſchreibung ſaßen und ſtanden, wie, wer ſich mahlen laͤßt,
dem Mahler ſitzt.

Jch kannte ſie ſonſt, die edeln — und ich machte den erſten Verſuch, nach der Natur
und mit aller ſonſtigen Kenntniß ihren Charakter zu beobachten und zu beſchreiben. —

Hier iſt die Beſchreibung des ganzen Menſchen — Erſtlich von 1. und 3.

Siehe den bluͤhenden Juͤngling von 25. Jahren! das leichtſchwebende, ſchwimmende,
elaſtiſche Geſchoͤpfe! Es liegt nicht; es ſteht nicht; es ſtemmt ſich nicht; es fliegt nicht; es ſchwebt
oder ſchwimmt. Zu lebendig, um zu ruhen; zu locker, um feſt zu ſtehen; zu ſchwer und zu weich,
um zu fliegen.

Ein ſchwebendes alſo, das die Erde nicht beruͤhrt! Jn ſeinem ganzen Umriſſe keine voͤl-
lig ſchlaffe Linie, aber auch keine gerade, keine geſpannte, keine feſt gewoͤlbte, hart gebogene; —
kein eckigter Einſchnitt; kein felßigtes Vorgebuͤrge der Stirn; keine Haͤrte; keine Steifigkeit;
keine zuͤrnende Rohigkeit; keine drohende Obermacht; kein eiſerner Muth — elaſtiſch reizbarer
wohl, aber kein eiſerner; kein feſter, forſchender Tiefſinn; keine langſame Ueberlegung, oder
kluge Bedaͤchtlichkeit; nirgends der Raiſonneur mit der feſtgehaltnen Wagſchaale in der einen,
dem Schwerte in der andern Hand, und doch auch nicht die mindeſte Steifheit im Blicke und
Urtheile! und doch die voͤlligſte Geradheit des Verſtandes, oder vielmehr der unbefleckteſte
Wahrheitsſinn! Jmmer der innige Empfinder, nie der tiefe Ausdenker; nie der Erfinder, nie
der pruͤfende Entwickler der ſo ſchnellerblickten, ſchnellerkannten, ſchnellgeliebten, ſchnellergriff-
nen Wahrheit .... Ewiger Schweber! Seher! Jdealiſirer! Verſchoͤnerer! — Geſtalter al-
ler ſeiner Jdeen! Jmmer halbtrunkener Dichter, der ſieht, was er ſehen will; — nicht der
truͤbſinnig ſchmachtende — nicht der hartzermalmende; — aber der hohe, edle, gewaltige! der
mit gemaͤßigtem „Sonnendurſt“ in den Regionen der Luft hin und herwallt, uͤber ſich ſtrebt, und

wieder
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0414" n="244"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#aq">XXX.</hi> <hi rendition="#g">Fragment.</hi> </hi> </fw><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#g"> <hi rendition="#fr">Achte und neunte Tafel.</hi> </hi> <hi rendition="#aq">C ... s. de St. ... g.</hi> </head><lb/>
            <p><hi rendition="#in">D</hi>ie Ju&#x0364;nglinge, deren Bilder und Silhouetten wir hier vor uns haben, &#x017F;ind die er&#x017F;ten Men-<lb/>
&#x017F;chen, die mir zur phy&#x017F;iognomi&#x017F;chen Be&#x017F;chreibung &#x017F;aßen und &#x017F;tanden, wie, wer &#x017F;ich mahlen la&#x0364;ßt,<lb/>
dem Mahler &#x017F;itzt.</p><lb/>
            <p>Jch kannte &#x017F;ie &#x017F;on&#x017F;t, die edeln &#x2014; und ich machte den er&#x017F;ten Ver&#x017F;uch, nach der Natur<lb/>
und mit aller &#x017F;on&#x017F;tigen Kenntniß ihren Charakter zu beobachten und zu be&#x017F;chreiben. &#x2014;</p><lb/>
            <p>Hier i&#x017F;t die Be&#x017F;chreibung des ganzen Men&#x017F;chen &#x2014; Er&#x017F;tlich von 1. und 3.</p><lb/>
            <p>Siehe den blu&#x0364;henden Ju&#x0364;ngling von 25. Jahren! das leicht&#x017F;chwebende, &#x017F;chwimmende,<lb/>
ela&#x017F;ti&#x017F;che Ge&#x017F;cho&#x0364;pfe! Es liegt nicht; es &#x017F;teht nicht; es &#x017F;temmt &#x017F;ich nicht; es fliegt nicht; es &#x017F;chwebt<lb/>
oder &#x017F;chwimmt. Zu lebendig, um zu ruhen; zu locker, um fe&#x017F;t zu &#x017F;tehen; zu &#x017F;chwer und zu weich,<lb/>
um zu fliegen.</p><lb/>
            <p>Ein &#x017F;chwebendes al&#x017F;o, das die Erde nicht beru&#x0364;hrt! Jn &#x017F;einem ganzen Umri&#x017F;&#x017F;e keine vo&#x0364;l-<lb/>
lig &#x017F;chlaffe Linie, aber auch keine gerade, keine ge&#x017F;pannte, keine <hi rendition="#fr">fe&#x017F;t</hi> gewo&#x0364;lbte, hart gebogene; &#x2014;<lb/>
kein eckigter Ein&#x017F;chnitt; kein felßigtes Vorgebu&#x0364;rge der Stirn; keine Ha&#x0364;rte; keine Steifigkeit;<lb/>
keine zu&#x0364;rnende Rohigkeit; keine drohende Obermacht; kein ei&#x017F;erner Muth &#x2014; ela&#x017F;ti&#x017F;ch reizbarer<lb/>
wohl, aber kein ei&#x017F;erner; kein fe&#x017F;ter, for&#x017F;chender Tief&#x017F;inn; keine lang&#x017F;ame Ueberlegung, oder<lb/>
kluge Beda&#x0364;chtlichkeit; nirgends der Rai&#x017F;onneur mit der fe&#x017F;tgehaltnen Wag&#x017F;chaale in der einen,<lb/>
dem Schwerte in der andern Hand, und doch auch nicht die minde&#x017F;te Steifheit im Blicke und<lb/>
Urtheile! und doch die vo&#x0364;llig&#x017F;te Geradheit des Ver&#x017F;tandes, oder vielmehr der unbefleckte&#x017F;te<lb/>
Wahrheits&#x017F;inn! Jmmer der innige Empfinder, nie der tiefe Ausdenker; nie der Erfinder, nie<lb/>
der pru&#x0364;fende Entwickler der &#x017F;o &#x017F;chnellerblickten, &#x017F;chnellerkannten, &#x017F;chnellgeliebten, &#x017F;chnellergriff-<lb/>
nen Wahrheit .... Ewiger Schweber! Seher! Jdeali&#x017F;irer! Ver&#x017F;cho&#x0364;nerer! &#x2014; Ge&#x017F;talter al-<lb/>
ler &#x017F;einer Jdeen! Jmmer halbtrunkener Dichter, der &#x017F;ieht, was er &#x017F;ehen will; &#x2014; nicht der<lb/>
tru&#x0364;b&#x017F;innig &#x017F;chmachtende &#x2014; nicht der hartzermalmende; &#x2014; aber der hohe, edle, gewaltige! der<lb/>
mit gema&#x0364;ßigtem &#x201E;Sonnendur&#x017F;t&#x201C; in den Regionen der Luft hin und herwallt, u&#x0364;ber &#x017F;ich &#x017F;trebt, und<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wieder</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[244/0414] XXX. Fragment. Achte und neunte Tafel. C ... s. de St. ... g. Die Juͤnglinge, deren Bilder und Silhouetten wir hier vor uns haben, ſind die erſten Men- ſchen, die mir zur phyſiognomiſchen Beſchreibung ſaßen und ſtanden, wie, wer ſich mahlen laͤßt, dem Mahler ſitzt. Jch kannte ſie ſonſt, die edeln — und ich machte den erſten Verſuch, nach der Natur und mit aller ſonſtigen Kenntniß ihren Charakter zu beobachten und zu beſchreiben. — Hier iſt die Beſchreibung des ganzen Menſchen — Erſtlich von 1. und 3. Siehe den bluͤhenden Juͤngling von 25. Jahren! das leichtſchwebende, ſchwimmende, elaſtiſche Geſchoͤpfe! Es liegt nicht; es ſteht nicht; es ſtemmt ſich nicht; es fliegt nicht; es ſchwebt oder ſchwimmt. Zu lebendig, um zu ruhen; zu locker, um feſt zu ſtehen; zu ſchwer und zu weich, um zu fliegen. Ein ſchwebendes alſo, das die Erde nicht beruͤhrt! Jn ſeinem ganzen Umriſſe keine voͤl- lig ſchlaffe Linie, aber auch keine gerade, keine geſpannte, keine feſt gewoͤlbte, hart gebogene; — kein eckigter Einſchnitt; kein felßigtes Vorgebuͤrge der Stirn; keine Haͤrte; keine Steifigkeit; keine zuͤrnende Rohigkeit; keine drohende Obermacht; kein eiſerner Muth — elaſtiſch reizbarer wohl, aber kein eiſerner; kein feſter, forſchender Tiefſinn; keine langſame Ueberlegung, oder kluge Bedaͤchtlichkeit; nirgends der Raiſonneur mit der feſtgehaltnen Wagſchaale in der einen, dem Schwerte in der andern Hand, und doch auch nicht die mindeſte Steifheit im Blicke und Urtheile! und doch die voͤlligſte Geradheit des Verſtandes, oder vielmehr der unbefleckteſte Wahrheitsſinn! Jmmer der innige Empfinder, nie der tiefe Ausdenker; nie der Erfinder, nie der pruͤfende Entwickler der ſo ſchnellerblickten, ſchnellerkannten, ſchnellgeliebten, ſchnellergriff- nen Wahrheit .... Ewiger Schweber! Seher! Jdealiſirer! Verſchoͤnerer! — Geſtalter al- ler ſeiner Jdeen! Jmmer halbtrunkener Dichter, der ſieht, was er ſehen will; — nicht der truͤbſinnig ſchmachtende — nicht der hartzermalmende; — aber der hohe, edle, gewaltige! der mit gemaͤßigtem „Sonnendurſt“ in den Regionen der Luft hin und herwallt, uͤber ſich ſtrebt, und wieder

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/414
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/414>, abgerufen am 25.11.2024.