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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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von Leuten gemeiner Extraktion.
sen kann. Jm Gegentheil -- da die Wahrheit in allen Dingen den Vortritt haben muß, so wie die
Gerechtigkeit im Handeln; da die Wahrheit durch nichts in der Welt ersetzt werden kann; da je-
der gerechte Mann dem Parademacher der feinsten Sentimens, jeder Wahrheit gebende Philo-
soph -- dem feinsten Geschmäckler weit vorzuziehen ist; -- so behaupt' ich, daß der heutige raffi-
nirende Pinsel der Mahler, und wenn sie auch dießfalls die gerechte Bewunderung einer ganzen
Welt wären -- mir viel weniger gefällt, als der rohe Styl der unaufgespannten Wahrheit in den
Mahlereyen eines Cölla, und in den nunmehrigen Arbeiten eines jungen Lips. Jch will damit
weder die Kunst der erstern erniedrigen; noch das Rohe und Fehlerhafte der letztern vertheidigen.
Aber auf alle Weise, bey allen Anlässen, mit aller Stärke möcht' ich's auf der Kanzel -- und im
physiognomischen Blatte über Schweizer-Bauern sagen, hör's denn, wer's hören kann und will --
und lache, wer lachen mag und will -- "Gerechtigkeit geht der Liebe -- Wahrheit der Kunst --
"Natur der Zierde vor." --

Schmuckloser, einfacher, leerer an Zierde und Kunstmanier kann wohl kein Gesicht seyn,
als das Gesicht A, das wir itzt vor uns haben; aber wie fest, wie keck, wie wahr, wie bestimmt!
Wer verkennt die Natur, wer sieht nicht, daß er kein Jdeal, daß er nackte Wahrheit vor sich hat,
so gut sie sich durch schwarze Linien auf Kupfer ausdrücken läßt -- nein, nicht so gut, als sie sich
ausdrücken läßt -- aber doch -- gut ausgedrückt. Wie ist besonders der Charakter des Gesichtes
überhaupt mit dem Charakter des Styls übereinstimmend und parallel! welche Bestimmtheit des
Charakters! welche Bestimmtheit des Styls! welche Festigkeit im Auge und Munde! im Blicke!
in der Nase -- (nur wieder das Nasenloch zu klein und unbestimmt) im ganzen Ton des Gesichtes! --
Bemerkt den festen Bogen, den die Gränze des obern hineinverschobnen Auglieds bestimmt; bemerkt
die Bestimmtheit des Augenwinkelgens -- bemerkt besonders die unverbissene ruhige Beschlossenheit
des Mundes -- das längliche unfleischige, gerade Kinn -- bemerkt das nicht ganz glatte, nicht sich
schwerlockende, wild krausende Haar -- die Stellung des Kopfes, weder vorwärts sich senkend,
noch zurückstrebend; die Kürze des Halses -- alles, wie Eins! wie wahrer Ausdruck fester, über-
legender Arbeitsamkeit, die weiß, was sie machen will, und das und anders nichts macht -- --

Aber laßt uns nun eine -- oder zehen Stufen höher steigen, und auch noch ein Wort von
dem Kopfe B. sagen.

Welch
D d 3

von Leuten gemeiner Extraktion.
ſen kann. Jm Gegentheil — da die Wahrheit in allen Dingen den Vortritt haben muß, ſo wie die
Gerechtigkeit im Handeln; da die Wahrheit durch nichts in der Welt erſetzt werden kann; da je-
der gerechte Mann dem Parademacher der feinſten Sentimens, jeder Wahrheit gebende Philo-
ſoph — dem feinſten Geſchmaͤckler weit vorzuziehen iſt; — ſo behaupt’ ich, daß der heutige raffi-
nirende Pinſel der Mahler, und wenn ſie auch dießfalls die gerechte Bewunderung einer ganzen
Welt waͤren — mir viel weniger gefaͤllt, als der rohe Styl der unaufgeſpannten Wahrheit in den
Mahlereyen eines Coͤlla, und in den nunmehrigen Arbeiten eines jungen Lips. Jch will damit
weder die Kunſt der erſtern erniedrigen; noch das Rohe und Fehlerhafte der letztern vertheidigen.
Aber auf alle Weiſe, bey allen Anlaͤſſen, mit aller Staͤrke moͤcht’ ich’s auf der Kanzel — und im
phyſiognomiſchen Blatte uͤber Schweizer-Bauern ſagen, hoͤr’s denn, wer’s hoͤren kann und will —
und lache, wer lachen mag und will — „Gerechtigkeit geht der Liebe — Wahrheit der Kunſt —
„Natur der Zierde vor.“ —

Schmuckloſer, einfacher, leerer an Zierde und Kunſtmanier kann wohl kein Geſicht ſeyn,
als das Geſicht A, das wir itzt vor uns haben; aber wie feſt, wie keck, wie wahr, wie beſtimmt!
Wer verkennt die Natur, wer ſieht nicht, daß er kein Jdeal, daß er nackte Wahrheit vor ſich hat,
ſo gut ſie ſich durch ſchwarze Linien auf Kupfer ausdruͤcken laͤßt — nein, nicht ſo gut, als ſie ſich
ausdruͤcken laͤßt — aber doch — gut ausgedruͤckt. Wie iſt beſonders der Charakter des Geſichtes
uͤberhaupt mit dem Charakter des Styls uͤbereinſtimmend und parallel! welche Beſtimmtheit des
Charakters! welche Beſtimmtheit des Styls! welche Feſtigkeit im Auge und Munde! im Blicke!
in der Naſe — (nur wieder das Naſenloch zu klein und unbeſtimmt) im ganzen Ton des Geſichtes! —
Bemerkt den feſten Bogen, den die Graͤnze des obern hineinverſchobnen Auglieds beſtimmt; bemerkt
die Beſtimmtheit des Augenwinkelgens — bemerkt beſonders die unverbiſſene ruhige Beſchloſſenheit
des Mundes — das laͤngliche unfleiſchige, gerade Kinn — bemerkt das nicht ganz glatte, nicht ſich
ſchwerlockende, wild krauſende Haar — die Stellung des Kopfes, weder vorwaͤrts ſich ſenkend,
noch zuruͤckſtrebend; die Kuͤrze des Halſes — alles, wie Eins! wie wahrer Ausdruck feſter, uͤber-
legender Arbeitſamkeit, die weiß, was ſie machen will, und das und anders nichts macht — —

Aber laßt uns nun eine — oder zehen Stufen hoͤher ſteigen, und auch noch ein Wort von
dem Kopfe B. ſagen.

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[213/0347] von Leuten gemeiner Extraktion. ſen kann. Jm Gegentheil — da die Wahrheit in allen Dingen den Vortritt haben muß, ſo wie die Gerechtigkeit im Handeln; da die Wahrheit durch nichts in der Welt erſetzt werden kann; da je- der gerechte Mann dem Parademacher der feinſten Sentimens, jeder Wahrheit gebende Philo- ſoph — dem feinſten Geſchmaͤckler weit vorzuziehen iſt; — ſo behaupt’ ich, daß der heutige raffi- nirende Pinſel der Mahler, und wenn ſie auch dießfalls die gerechte Bewunderung einer ganzen Welt waͤren — mir viel weniger gefaͤllt, als der rohe Styl der unaufgeſpannten Wahrheit in den Mahlereyen eines Coͤlla, und in den nunmehrigen Arbeiten eines jungen Lips. Jch will damit weder die Kunſt der erſtern erniedrigen; noch das Rohe und Fehlerhafte der letztern vertheidigen. Aber auf alle Weiſe, bey allen Anlaͤſſen, mit aller Staͤrke moͤcht’ ich’s auf der Kanzel — und im phyſiognomiſchen Blatte uͤber Schweizer-Bauern ſagen, hoͤr’s denn, wer’s hoͤren kann und will — und lache, wer lachen mag und will — „Gerechtigkeit geht der Liebe — Wahrheit der Kunſt — „Natur der Zierde vor.“ — Schmuckloſer, einfacher, leerer an Zierde und Kunſtmanier kann wohl kein Geſicht ſeyn, als das Geſicht A, das wir itzt vor uns haben; aber wie feſt, wie keck, wie wahr, wie beſtimmt! Wer verkennt die Natur, wer ſieht nicht, daß er kein Jdeal, daß er nackte Wahrheit vor ſich hat, ſo gut ſie ſich durch ſchwarze Linien auf Kupfer ausdruͤcken laͤßt — nein, nicht ſo gut, als ſie ſich ausdruͤcken laͤßt — aber doch — gut ausgedruͤckt. Wie iſt beſonders der Charakter des Geſichtes uͤberhaupt mit dem Charakter des Styls uͤbereinſtimmend und parallel! welche Beſtimmtheit des Charakters! welche Beſtimmtheit des Styls! welche Feſtigkeit im Auge und Munde! im Blicke! in der Naſe — (nur wieder das Naſenloch zu klein und unbeſtimmt) im ganzen Ton des Geſichtes! — Bemerkt den feſten Bogen, den die Graͤnze des obern hineinverſchobnen Auglieds beſtimmt; bemerkt die Beſtimmtheit des Augenwinkelgens — bemerkt beſonders die unverbiſſene ruhige Beſchloſſenheit des Mundes — das laͤngliche unfleiſchige, gerade Kinn — bemerkt das nicht ganz glatte, nicht ſich ſchwerlockende, wild krauſende Haar — die Stellung des Kopfes, weder vorwaͤrts ſich ſenkend, noch zuruͤckſtrebend; die Kuͤrze des Halſes — alles, wie Eins! wie wahrer Ausdruck feſter, uͤber- legender Arbeitſamkeit, die weiß, was ſie machen will, und das und anders nichts macht — — Aber laßt uns nun eine — oder zehen Stufen hoͤher ſteigen, und auch noch ein Wort von dem Kopfe B. ſagen. Welch D d 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/347>, abgerufen am 22.11.2024.