Es fehlt beynah allemal am Aug', oder an der Hand des Mahlers -- oder am Objekt, das nachgemahlt, oder nachgezeichnet werden soll; oder an allen dreyen zusammen -- Man sieht nicht, was da ist; man kann nicht zeichnen, was man sieht; der Gegenstand rückt sich unaufhör- lich aus seiner Lage, die so einfach seyn sollte; und wenn er auch nicht weicht, und wenn's dem Mahler weder am allbeobachtenden Auge, noch an einer allnachahmenden Hand fehlt, so ist die letzte unüberwindliche Schwierigkeit noch diese, daß jede Stellung des Menschen, jede Lage, die Moment ist, unnatürlich und unwahr wird, wenn sie in demselben Momente fortdauren soll.
Was ich gesagt habe, ist nichts gegen das, was hierüber gesagt werden könnte -- dieß Feld ist, so viel ich weiß, noch sehr unbearbeitet. Selbst Sulzer, -- wie wenig hat er drüber ge- sagt? -- wie wenig konnte er in einem Wörterbuche davon sagen? da kaum ein Quartband hin- reichen würde, diese Materie von allen Seiten zu betrachten, alle berühmte Porträtmahler zu prüfen und zu beurtheilen, und alle Regeln und Cautelen anzugeben, die bey der unendlichen Verschiedenheit, und der kaum glaublichen Einförmigkeit der menschlichen Gesichter -- dem jungen Künstler gegeben werden sollten.
Jch werd' es versuchen, in der Folge, theils hin und wieder bey verschiedenen Gelegen- heiten, theils in besondern Fragmenten, einige Beyträge zu diesem wichtigen Werke zu liefern. Eines davon sey das nächstfolgende.
[Abbildung]
Zehntes
L 3
Ueber die Portraͤtmahlerey.
Es fehlt beynah allemal am Aug’, oder an der Hand des Mahlers — oder am Objekt, das nachgemahlt, oder nachgezeichnet werden ſoll; oder an allen dreyen zuſammen — Man ſieht nicht, was da iſt; man kann nicht zeichnen, was man ſieht; der Gegenſtand ruͤckt ſich unaufhoͤr- lich aus ſeiner Lage, die ſo einfach ſeyn ſollte; und wenn er auch nicht weicht, und wenn’s dem Mahler weder am allbeobachtenden Auge, noch an einer allnachahmenden Hand fehlt, ſo iſt die letzte unuͤberwindliche Schwierigkeit noch dieſe, daß jede Stellung des Menſchen, jede Lage, die Moment iſt, unnatuͤrlich und unwahr wird, wenn ſie in demſelben Momente fortdauren ſoll.
Was ich geſagt habe, iſt nichts gegen das, was hieruͤber geſagt werden koͤnnte — dieß Feld iſt, ſo viel ich weiß, noch ſehr unbearbeitet. Selbſt Sulzer, — wie wenig hat er druͤber ge- ſagt? — wie wenig konnte er in einem Woͤrterbuche davon ſagen? da kaum ein Quartband hin- reichen wuͤrde, dieſe Materie von allen Seiten zu betrachten, alle beruͤhmte Portraͤtmahler zu pruͤfen und zu beurtheilen, und alle Regeln und Cautelen anzugeben, die bey der unendlichen Verſchiedenheit, und der kaum glaublichen Einfoͤrmigkeit der menſchlichen Geſichter — dem jungen Kuͤnſtler gegeben werden ſollten.
Jch werd’ es verſuchen, in der Folge, theils hin und wieder bey verſchiedenen Gelegen- heiten, theils in beſondern Fragmenten, einige Beytraͤge zu dieſem wichtigen Werke zu liefern. Eines davon ſey das naͤchſtfolgende.
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Zehntes
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Ueber die Portraͤtmahlerey.
Es fehlt beynah allemal am Aug’, oder an der Hand des Mahlers — oder am Objekt,
das nachgemahlt, oder nachgezeichnet werden ſoll; oder an allen dreyen zuſammen — Man ſieht
nicht, was da iſt; man kann nicht zeichnen, was man ſieht; der Gegenſtand ruͤckt ſich unaufhoͤr-
lich aus ſeiner Lage, die ſo einfach ſeyn ſollte; und wenn er auch nicht weicht, und wenn’s dem
Mahler weder am allbeobachtenden Auge, noch an einer allnachahmenden Hand fehlt, ſo iſt die
letzte unuͤberwindliche Schwierigkeit noch dieſe, daß jede Stellung des Menſchen, jede Lage, die
Moment iſt, unnatuͤrlich und unwahr wird, wenn ſie in demſelben Momente fortdauren ſoll.
Was ich geſagt habe, iſt nichts gegen das, was hieruͤber geſagt werden koͤnnte — dieß Feld
iſt, ſo viel ich weiß, noch ſehr unbearbeitet. Selbſt Sulzer, — wie wenig hat er druͤber ge-
ſagt? — wie wenig konnte er in einem Woͤrterbuche davon ſagen? da kaum ein Quartband hin-
reichen wuͤrde, dieſe Materie von allen Seiten zu betrachten, alle beruͤhmte Portraͤtmahler zu
pruͤfen und zu beurtheilen, und alle Regeln und Cautelen anzugeben, die bey der unendlichen
Verſchiedenheit, und der kaum glaublichen Einfoͤrmigkeit der menſchlichen Geſichter — dem jungen
Kuͤnſtler gegeben werden ſollten.
Jch werd’ es verſuchen, in der Folge, theils hin und wieder bey verſchiedenen Gelegen-
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Eines davon ſey das naͤchſtfolgende.
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/113>, abgerufen am 24.11.2024.
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