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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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IX. Fragment.

Ohne genaue Kenntniß der besondern constituirenden Theile und Züge eines jeden Gesichts-
gliedes, wird's immer ein bloßer Zufall, und höchst seltener Zufall seyn, daß eines davon richtig
gezeichnet sey.

Diese einzige Bemerkung kann den nachdenkenden Künstler aufmerksam genug machen, die
Natur aus dem Grunde zu studieren, und ihm zeigen, daß er, wenn er was werden soll,
zwar die Werke großer Meister mit Achtung und Ehrfurcht ansehen -- aber sich durch keine Be-
scheidenheit -- (die einzige Tugend, welche die allherrschende Mittelmäßigkeit uns unaufhörlich
predigt, und die freylich an sich sehr nöthig und liebenswürdig, dennoch aber nicht so wohl für sich
bestehende Tugend, als bloß Kleid und Zierde der Tugend und der würklich vorhandenen Kraft
ist) sich durch keine Bescheidenheit abhalten lassen soll -- mit seinen eignen Augen zu sehen, und
die Natur im Ganzen und im Theile so zu beobachten, als wenn vor ihm noch niemand beob-
achtet hätte; so zu beobachten, als wenn nach ihm niemand mehr nachlesen sollte. Ohne dieß,
junger Künstler, -- wirst du auf- und untergehen, wie ein Meteor! und deiner Werke Ruhm
wird sich nur auf die Unwissenheit deiner Zeitgenossen gründen.

Die meisten besten Porträtmahler, wenn's herrlich geht, begnügen sich, wie die meisten
Beurtheiler der Physiognomien, -- höchstens nur damit, den Charakter der Leidenschaften in
den beweglichen und muskulösen Theilen des Gesichtes auszudrücken. Sie verstehen Euch gar
nicht, sie lächeln über Euch hin, wenn Jhr ihnen von der von aller Bewegung fleischiger Theile
unabhängigen Grundlage des menschlichen Gesichtes, als vom Fundamente jeder Zeichnung und
jedes Gemähldes, redet. Jhr möcht reden, so viel ihr wollt, sie mahlen fort mit einer Unerbittlich-
keit und Beschränktheit, wodurch die eisenfesteste Geduld zu Boden getreten werden möchte.

Und bis bessere Anstalten zur Vervollkommnung der Porträtmahlerey vorhanden sind, --
bis etwa eine physiognomische Gesellschaft oder Akademie -- (wovon wir vielleicht noch in einem
besondern Fragmente reden werden) physiognomische Porträtmahler bildet -- werden wir im Ge-
biete der Physiognomik höchstens nur kriechen, wo wir sonst so leicht fliegen könnten.

Eins von den größten Hindernissen, womit die Physiognomik zu kämpfen hat, ist die würk-
lich unglaubliche Unvollkommenheit dieser Kunst.

Es
IX. Fragment.

Ohne genaue Kenntniß der beſondern conſtituirenden Theile und Zuͤge eines jeden Geſichts-
gliedes, wird’s immer ein bloßer Zufall, und hoͤchſt ſeltener Zufall ſeyn, daß eines davon richtig
gezeichnet ſey.

Dieſe einzige Bemerkung kann den nachdenkenden Kuͤnſtler aufmerkſam genug machen, die
Natur aus dem Grunde zu ſtudieren, und ihm zeigen, daß er, wenn er was werden ſoll,
zwar die Werke großer Meiſter mit Achtung und Ehrfurcht anſehen — aber ſich durch keine Be-
ſcheidenheit — (die einzige Tugend, welche die allherrſchende Mittelmaͤßigkeit uns unaufhoͤrlich
predigt, und die freylich an ſich ſehr noͤthig und liebenswuͤrdig, dennoch aber nicht ſo wohl fuͤr ſich
beſtehende Tugend, als bloß Kleid und Zierde der Tugend und der wuͤrklich vorhandenen Kraft
iſt) ſich durch keine Beſcheidenheit abhalten laſſen ſoll — mit ſeinen eignen Augen zu ſehen, und
die Natur im Ganzen und im Theile ſo zu beobachten, als wenn vor ihm noch niemand beob-
achtet haͤtte; ſo zu beobachten, als wenn nach ihm niemand mehr nachleſen ſollte. Ohne dieß,
junger Kuͤnſtler, — wirſt du auf- und untergehen, wie ein Meteor! und deiner Werke Ruhm
wird ſich nur auf die Unwiſſenheit deiner Zeitgenoſſen gruͤnden.

Die meiſten beſten Portraͤtmahler, wenn’s herrlich geht, begnuͤgen ſich, wie die meiſten
Beurtheiler der Phyſiognomien, — hoͤchſtens nur damit, den Charakter der Leidenſchaften in
den beweglichen und muskuloͤſen Theilen des Geſichtes auszudruͤcken. Sie verſtehen Euch gar
nicht, ſie laͤcheln uͤber Euch hin, wenn Jhr ihnen von der von aller Bewegung fleiſchiger Theile
unabhaͤngigen Grundlage des menſchlichen Geſichtes, als vom Fundamente jeder Zeichnung und
jedes Gemaͤhldes, redet. Jhr moͤcht reden, ſo viel ihr wollt, ſie mahlen fort mit einer Unerbittlich-
keit und Beſchraͤnktheit, wodurch die eiſenfeſteſte Geduld zu Boden getreten werden moͤchte.

Und bis beſſere Anſtalten zur Vervollkommnung der Portraͤtmahlerey vorhanden ſind, —
bis etwa eine phyſiognomiſche Geſellſchaft oder Akademie — (wovon wir vielleicht noch in einem
beſondern Fragmente reden werden) phyſiognomiſche Portraͤtmahler bildet — werden wir im Ge-
biete der Phyſiognomik hoͤchſtens nur kriechen, wo wir ſonſt ſo leicht fliegen koͤnnten.

Eins von den groͤßten Hinderniſſen, womit die Phyſiognomik zu kaͤmpfen hat, iſt die wuͤrk-
lich unglaubliche Unvollkommenheit dieſer Kunſt.

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[84/0112] IX. Fragment. Ohne genaue Kenntniß der beſondern conſtituirenden Theile und Zuͤge eines jeden Geſichts- gliedes, wird’s immer ein bloßer Zufall, und hoͤchſt ſeltener Zufall ſeyn, daß eines davon richtig gezeichnet ſey. Dieſe einzige Bemerkung kann den nachdenkenden Kuͤnſtler aufmerkſam genug machen, die Natur aus dem Grunde zu ſtudieren, und ihm zeigen, daß er, wenn er was werden ſoll, zwar die Werke großer Meiſter mit Achtung und Ehrfurcht anſehen — aber ſich durch keine Be- ſcheidenheit — (die einzige Tugend, welche die allherrſchende Mittelmaͤßigkeit uns unaufhoͤrlich predigt, und die freylich an ſich ſehr noͤthig und liebenswuͤrdig, dennoch aber nicht ſo wohl fuͤr ſich beſtehende Tugend, als bloß Kleid und Zierde der Tugend und der wuͤrklich vorhandenen Kraft iſt) ſich durch keine Beſcheidenheit abhalten laſſen ſoll — mit ſeinen eignen Augen zu ſehen, und die Natur im Ganzen und im Theile ſo zu beobachten, als wenn vor ihm noch niemand beob- achtet haͤtte; ſo zu beobachten, als wenn nach ihm niemand mehr nachleſen ſollte. Ohne dieß, junger Kuͤnſtler, — wirſt du auf- und untergehen, wie ein Meteor! und deiner Werke Ruhm wird ſich nur auf die Unwiſſenheit deiner Zeitgenoſſen gruͤnden. Die meiſten beſten Portraͤtmahler, wenn’s herrlich geht, begnuͤgen ſich, wie die meiſten Beurtheiler der Phyſiognomien, — hoͤchſtens nur damit, den Charakter der Leidenſchaften in den beweglichen und muskuloͤſen Theilen des Geſichtes auszudruͤcken. Sie verſtehen Euch gar nicht, ſie laͤcheln uͤber Euch hin, wenn Jhr ihnen von der von aller Bewegung fleiſchiger Theile unabhaͤngigen Grundlage des menſchlichen Geſichtes, als vom Fundamente jeder Zeichnung und jedes Gemaͤhldes, redet. Jhr moͤcht reden, ſo viel ihr wollt, ſie mahlen fort mit einer Unerbittlich- keit und Beſchraͤnktheit, wodurch die eiſenfeſteſte Geduld zu Boden getreten werden moͤchte. Und bis beſſere Anſtalten zur Vervollkommnung der Portraͤtmahlerey vorhanden ſind, — bis etwa eine phyſiognomiſche Geſellſchaft oder Akademie — (wovon wir vielleicht noch in einem beſondern Fragmente reden werden) phyſiognomiſche Portraͤtmahler bildet — werden wir im Ge- biete der Phyſiognomik hoͤchſtens nur kriechen, wo wir ſonſt ſo leicht fliegen koͤnnten. Eins von den groͤßten Hinderniſſen, womit die Phyſiognomik zu kaͤmpfen hat, iſt die wuͤrk- lich unglaubliche Unvollkommenheit dieſer Kunſt. Es

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/112>, abgerufen am 28.04.2024.