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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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der moralischen und körperlichen Schönheit.
schönerungen! -- Wen sie belebet, der ist hurtig, höflich, sanft, nicht ungeberdig, nicht schläferig,
nicht plump, nicht zur Erde gebückt, nicht launisch, nicht -- und so hat er noch hundert negative
und positive Eigenschaften, die des Menschen Angesicht verschönern, je früher diese Haupttu-
gend aller Tugenden, diese Seele aller, -- in dem Menschen geweckt, genährt, geschonet, ge-
stärkt wird -- wenn auch nur ein wenig gearbeitet und Bahn gemacht wird -- zu den man-
nichfaltigen schönen Wirkungen, die sie haben kann.

b) Und dennoch -- was in unserer Materie am allermeisten Aufschluß giebt, und die
mehresten Einwendungen weglenkt: -- Tugend und Laster, Moralität und Jmmoralität, im
weitesten Sinne, haben viel mittelbare Folgen auf die schöne oder häßliche Bildung der
Kinder!
Wie richtig beantworten sich da so viele Fälle, wo man etwa fragen kann; "War-
"um dieses von der ersten Jugend an mit so viel Fleiß erzogene, wirklich auch so lenksame, so
"tugendhaft gewordne Kind -- dieses so viel bessere Kind als etwa sein früh gestorbener Va-
"ter -- dennoch so viel Widriges, so viel Häßliches in seiner Gesichtsbildung habe?" -- be-
"halten habe"
muß man sagen. Und "geerbt, oder aus Mutterleib empfangen ha-
"be
" setz ich hinzu.

Jch kenne wenig gröbere handgreiflichere Jrrthümer, die doch von so großen Köpfen,
noch bis jetzt gehegt und unterstützt werden, als den: "Es komme alles bey dem Menschen
"von der Erziehung, Bildung, Beyspielen her -- nichts von der Organisation und der ur-
"sprünglichen Bildung des Menschen, diese sey bey allen gleich."

Helvetius hat bekanntermaßen in seinem liebenswürdigen Enthusiasmus für die Ver-
besserung des Menschengeschlechts, mithin der Erziehung etc. die Sache gegen alle handgreifliche
Erfahrung so weit getrieben, daß ich im Lesen meinen Augen kaum mehr getraut habe.

Es wird noch hin und wieder in diesen Fragmenten Gelegenheit zu mehrerer Ausfüh-
rung des einen und andern dahin gehörenden Satzes geben.

Jtzt nur so viel für unsern Zweck:

So wenig ein erwachsener Mensch einem andern völlig gleich sieht -- so wenig ist ein
Kind zu finden, das in der allerersten Stunde seines Lebens irgend einem andern neugebohr-
nen Kinde ganz gleich sähe.

Man

der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
ſchoͤnerungen! — Wen ſie belebet, der iſt hurtig, hoͤflich, ſanft, nicht ungeberdig, nicht ſchlaͤferig,
nicht plump, nicht zur Erde gebuͤckt, nicht launiſch, nicht — und ſo hat er noch hundert negative
und poſitive Eigenſchaften, die des Menſchen Angeſicht verſchoͤnern, je fruͤher dieſe Haupttu-
gend aller Tugenden, dieſe Seele aller, — in dem Menſchen geweckt, genaͤhrt, geſchonet, ge-
ſtaͤrkt wird — wenn auch nur ein wenig gearbeitet und Bahn gemacht wird — zu den man-
nichfaltigen ſchoͤnen Wirkungen, die ſie haben kann.

b) Und dennoch — was in unſerer Materie am allermeiſten Aufſchluß giebt, und die
mehreſten Einwendungen weglenkt: — Tugend und Laſter, Moralitaͤt und Jmmoralitaͤt, im
weiteſten Sinne, haben viel mittelbare Folgen auf die ſchoͤne oder haͤßliche Bildung der
Kinder!
Wie richtig beantworten ſich da ſo viele Faͤlle, wo man etwa fragen kann; „War-
„um dieſes von der erſten Jugend an mit ſo viel Fleiß erzogene, wirklich auch ſo lenkſame, ſo
„tugendhaft gewordne Kind — dieſes ſo viel beſſere Kind als etwa ſein fruͤh geſtorbener Va-
„ter — dennoch ſo viel Widriges, ſo viel Haͤßliches in ſeiner Geſichtsbildung habe?“ — be-
„halten habe“
muß man ſagen. Und „geerbt, oder aus Mutterleib empfangen ha-
„be
“ ſetz ich hinzu.

Jch kenne wenig groͤbere handgreiflichere Jrrthuͤmer, die doch von ſo großen Koͤpfen,
noch bis jetzt gehegt und unterſtuͤtzt werden, als den: „Es komme alles bey dem Menſchen
„von der Erziehung, Bildung, Beyſpielen her — nichts von der Organiſation und der ur-
„ſpruͤnglichen Bildung des Menſchen, dieſe ſey bey allen gleich.“

Helvetius hat bekanntermaßen in ſeinem liebenswuͤrdigen Enthuſiasmus fuͤr die Ver-
beſſerung des Menſchengeſchlechts, mithin der Erziehung ꝛc. die Sache gegen alle handgreifliche
Erfahrung ſo weit getrieben, daß ich im Leſen meinen Augen kaum mehr getraut habe.

Es wird noch hin und wieder in dieſen Fragmenten Gelegenheit zu mehrerer Ausfuͤh-
rung des einen und andern dahin gehoͤrenden Satzes geben.

Jtzt nur ſo viel fuͤr unſern Zweck:

So wenig ein erwachſener Menſch einem andern voͤllig gleich ſieht — ſo wenig iſt ein
Kind zu finden, das in der allererſten Stunde ſeines Lebens irgend einem andern neugebohr-
nen Kinde ganz gleich ſaͤhe.

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[71/0099] der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit. ſchoͤnerungen! — Wen ſie belebet, der iſt hurtig, hoͤflich, ſanft, nicht ungeberdig, nicht ſchlaͤferig, nicht plump, nicht zur Erde gebuͤckt, nicht launiſch, nicht — und ſo hat er noch hundert negative und poſitive Eigenſchaften, die des Menſchen Angeſicht verſchoͤnern, je fruͤher dieſe Haupttu- gend aller Tugenden, dieſe Seele aller, — in dem Menſchen geweckt, genaͤhrt, geſchonet, ge- ſtaͤrkt wird — wenn auch nur ein wenig gearbeitet und Bahn gemacht wird — zu den man- nichfaltigen ſchoͤnen Wirkungen, die ſie haben kann. b) Und dennoch — was in unſerer Materie am allermeiſten Aufſchluß giebt, und die mehreſten Einwendungen weglenkt: — Tugend und Laſter, Moralitaͤt und Jmmoralitaͤt, im weiteſten Sinne, haben viel mittelbare Folgen auf die ſchoͤne oder haͤßliche Bildung der Kinder! Wie richtig beantworten ſich da ſo viele Faͤlle, wo man etwa fragen kann; „War- „um dieſes von der erſten Jugend an mit ſo viel Fleiß erzogene, wirklich auch ſo lenkſame, ſo „tugendhaft gewordne Kind — dieſes ſo viel beſſere Kind als etwa ſein fruͤh geſtorbener Va- „ter — dennoch ſo viel Widriges, ſo viel Haͤßliches in ſeiner Geſichtsbildung habe?“ — be- „halten habe“ muß man ſagen. Und „geerbt, oder aus Mutterleib empfangen ha- „be“ ſetz ich hinzu. Jch kenne wenig groͤbere handgreiflichere Jrrthuͤmer, die doch von ſo großen Koͤpfen, noch bis jetzt gehegt und unterſtuͤtzt werden, als den: „Es komme alles bey dem Menſchen „von der Erziehung, Bildung, Beyſpielen her — nichts von der Organiſation und der ur- „ſpruͤnglichen Bildung des Menſchen, dieſe ſey bey allen gleich.“ Helvetius hat bekanntermaßen in ſeinem liebenswuͤrdigen Enthuſiasmus fuͤr die Ver- beſſerung des Menſchengeſchlechts, mithin der Erziehung ꝛc. die Sache gegen alle handgreifliche Erfahrung ſo weit getrieben, daß ich im Leſen meinen Augen kaum mehr getraut habe. Es wird noch hin und wieder in dieſen Fragmenten Gelegenheit zu mehrerer Ausfuͤh- rung des einen und andern dahin gehoͤrenden Satzes geben. Jtzt nur ſo viel fuͤr unſern Zweck: So wenig ein erwachſener Menſch einem andern voͤllig gleich ſieht — ſo wenig iſt ein Kind zu finden, das in der allererſten Stunde ſeines Lebens irgend einem andern neugebohr- nen Kinde ganz gleich ſaͤhe. Man

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/99>, abgerufen am 21.11.2024.