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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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IX. Fragment. Von der Harmonie

Man nehme einer nicht unempfindsamen Mutter ihr Kind weg, wenn sie es nach
der Geburt nur zwo Minuten mit einiger Aufmerksamkeit angesehen hat, und leg es un-
ter hundert neugebohrne Kinder derselben Stadt oder Gegend (wo hiemit die Menschen ein-
ander noch ähnlicher sind, als sonst nirgends in der Welt) sie wird es gewiß bald aus allen
hunderten hervorfinden.

Nun ist's ferner weltkundige Erfahrung, daß neugebohrne Kinder sowohl, als ältere
Kinder, ihrem Vater oder ihrer Mutter, bisweilen beyden, so wohl in Ansehung der Bil-
dung, als einzelner Züge auffallend ähnlich sind.

Wie sich Physiognomien durch viele Geschlechter herunter erhalten, und so kenntlich
immer wieder hervorkommen, daß du aus einer Menge solcher Familienportraite, die unter
einer Menge anderer gemischt würden, gar viele zur Familie gehörige wieder zusammenfinden
könntest, verdiente wohl in einem eigenen Fragmente von Familienphysiognomien beleuchtet zu
werden.

Es ist ferner die ausgemachteste Erfahrungssache, daß man in der Gemüthsart beson-
ders der jüngsten Kinder frappante Aehnlichkeiten mit der Gemüthsart ihres Vaters, ihrer
Mutter, oder beyder zugleich wahrnimmt.

Jn wie manchem Sohne haben wir den leibhaften Character des Vaters, des Vaters
Temperament und seine meisten moralischen Eigenschaften! Jn wie mancher Tochter den Chara-
cter der Mutter vollkommen wieder, oder auch den Character der Mutter im Sohne, den des
Vaters in der Tochter.

Und zum Beweise, daß dieß nicht von Erziehung und Umständen herrühre, dient ge-
rade das, daß Geschwister von gleichen Umständen und gleicher Erziehung ganz verschiedenen
Characters sind. Und der größte Erziehungskünstler, der den ursprünglichen Anlagen und Be-
schaffenheiten des Kindes am allerwenigsten zuschreibt, giebt ja gerade durch seine Erziehungs-
regeln, durch seine Kunstgriffe, dieser und jener sich früh äußernden Gemüthsart so und so
zu begegnen, den fehlerhaften die beste Wendung zu geben, und gute wohl zu gebrauchen und
anzubauen; gerade dadurch giebt er ja zu: "die moralischen Anlagen seyn ganz verschieden, ja
"bey jedem Kinde verschieden."

Und
IX. Fragment. Von der Harmonie

Man nehme einer nicht unempfindſamen Mutter ihr Kind weg, wenn ſie es nach
der Geburt nur zwo Minuten mit einiger Aufmerkſamkeit angeſehen hat, und leg es un-
ter hundert neugebohrne Kinder derſelben Stadt oder Gegend (wo hiemit die Menſchen ein-
ander noch aͤhnlicher ſind, als ſonſt nirgends in der Welt) ſie wird es gewiß bald aus allen
hunderten hervorfinden.

Nun iſt's ferner weltkundige Erfahrung, daß neugebohrne Kinder ſowohl, als aͤltere
Kinder, ihrem Vater oder ihrer Mutter, bisweilen beyden, ſo wohl in Anſehung der Bil-
dung, als einzelner Zuͤge auffallend aͤhnlich ſind.

Wie ſich Phyſiognomien durch viele Geſchlechter herunter erhalten, und ſo kenntlich
immer wieder hervorkommen, daß du aus einer Menge ſolcher Familienportraite, die unter
einer Menge anderer gemiſcht wuͤrden, gar viele zur Familie gehoͤrige wieder zuſammenfinden
koͤnnteſt, verdiente wohl in einem eigenen Fragmente von Familienphyſiognomien beleuchtet zu
werden.

Es iſt ferner die ausgemachteſte Erfahrungsſache, daß man in der Gemuͤthsart beſon-
ders der juͤngſten Kinder frappante Aehnlichkeiten mit der Gemuͤthsart ihres Vaters, ihrer
Mutter, oder beyder zugleich wahrnimmt.

Jn wie manchem Sohne haben wir den leibhaften Character des Vaters, des Vaters
Temperament und ſeine meiſten moraliſchen Eigenſchaften! Jn wie mancher Tochter den Chara-
cter der Mutter vollkommen wieder, oder auch den Character der Mutter im Sohne, den des
Vaters in der Tochter.

Und zum Beweiſe, daß dieß nicht von Erziehung und Umſtaͤnden herruͤhre, dient ge-
rade das, daß Geſchwiſter von gleichen Umſtaͤnden und gleicher Erziehung ganz verſchiedenen
Characters ſind. Und der groͤßte Erziehungskuͤnſtler, der den urſpruͤnglichen Anlagen und Be-
ſchaffenheiten des Kindes am allerwenigſten zuſchreibt, giebt ja gerade durch ſeine Erziehungs-
regeln, durch ſeine Kunſtgriffe, dieſer und jener ſich fruͤh aͤußernden Gemuͤthsart ſo und ſo
zu begegnen, den fehlerhaften die beſte Wendung zu geben, und gute wohl zu gebrauchen und
anzubauen; gerade dadurch giebt er ja zu: „die moraliſchen Anlagen ſeyn ganz verſchieden, ja
„bey jedem Kinde verſchieden.“

Und
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[72/0100] IX. Fragment. Von der Harmonie Man nehme einer nicht unempfindſamen Mutter ihr Kind weg, wenn ſie es nach der Geburt nur zwo Minuten mit einiger Aufmerkſamkeit angeſehen hat, und leg es un- ter hundert neugebohrne Kinder derſelben Stadt oder Gegend (wo hiemit die Menſchen ein- ander noch aͤhnlicher ſind, als ſonſt nirgends in der Welt) ſie wird es gewiß bald aus allen hunderten hervorfinden. Nun iſt's ferner weltkundige Erfahrung, daß neugebohrne Kinder ſowohl, als aͤltere Kinder, ihrem Vater oder ihrer Mutter, bisweilen beyden, ſo wohl in Anſehung der Bil- dung, als einzelner Zuͤge auffallend aͤhnlich ſind. Wie ſich Phyſiognomien durch viele Geſchlechter herunter erhalten, und ſo kenntlich immer wieder hervorkommen, daß du aus einer Menge ſolcher Familienportraite, die unter einer Menge anderer gemiſcht wuͤrden, gar viele zur Familie gehoͤrige wieder zuſammenfinden koͤnnteſt, verdiente wohl in einem eigenen Fragmente von Familienphyſiognomien beleuchtet zu werden. Es iſt ferner die ausgemachteſte Erfahrungsſache, daß man in der Gemuͤthsart beſon- ders der juͤngſten Kinder frappante Aehnlichkeiten mit der Gemuͤthsart ihres Vaters, ihrer Mutter, oder beyder zugleich wahrnimmt. Jn wie manchem Sohne haben wir den leibhaften Character des Vaters, des Vaters Temperament und ſeine meiſten moraliſchen Eigenſchaften! Jn wie mancher Tochter den Chara- cter der Mutter vollkommen wieder, oder auch den Character der Mutter im Sohne, den des Vaters in der Tochter. Und zum Beweiſe, daß dieß nicht von Erziehung und Umſtaͤnden herruͤhre, dient ge- rade das, daß Geſchwiſter von gleichen Umſtaͤnden und gleicher Erziehung ganz verſchiedenen Characters ſind. Und der groͤßte Erziehungskuͤnſtler, der den urſpruͤnglichen Anlagen und Be- ſchaffenheiten des Kindes am allerwenigſten zuſchreibt, giebt ja gerade durch ſeine Erziehungs- regeln, durch ſeine Kunſtgriffe, dieſer und jener ſich fruͤh aͤußernden Gemuͤthsart ſo und ſo zu begegnen, den fehlerhaften die beſte Wendung zu geben, und gute wohl zu gebrauchen und anzubauen; gerade dadurch giebt er ja zu: „die moraliſchen Anlagen ſeyn ganz verſchieden, ja „bey jedem Kinde verſchieden.“ Und

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/100>, abgerufen am 12.05.2024.