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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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Der Physiognomist.
"art vergleichen, und dasjenige, was allgemein zugegeben ist, von demjenigen absondern, was
"aus seiner individuellen Beobachtungsart entstehet." *) -- Jch lasse diese wichtige Anmer-
kung itzt unberührt. Jch habe oben schon in dem Stücke von den Schwierigkeiten, die Phy-
siognomik zu studiren, und noch früher schon eine ähnliche Anmerkung gemacht.

Also, will ich itzt nur noch bekräftigen, daß Kenntniß, genaue tiefe Kenntniß sei-
nes eignen Herzens eines der trefflichsten Jngredienzien zu dem Character des Physiognomi-
sten ist ....

O -- wie merk ich's mir an, wie ahnd' ich's mir in meinem Gesichte, wie muß ich
die Augen niederschlagen und das Angesicht wegwenden, -- wie Menschenaug und Spiegel
fliehen, wenn ich eine unedle Regung in mir wahrnehme! wie fürcht' ich mich vor meinem ei-
gnen prüfenden Blicke, oder dem beobachtenden Blicke anderer, wenn ich mein Herz über einem
unredlichen Kunstgriffe gegen sich selber oder andere ertappe -- -- O! Leser, wenn du nicht
oft über dir selber erröthest -- wenn dich, und wärest du auch der Beste aller Menschen, denn
auch der Beste aller Menschen ist Mensch! -- wenn dich diese Schaam nicht sehr oft durch-
wandelt; wenn du nicht oft deine Augen vor dir und andern um deinet willen niederschlagen
mußt; wenn du nicht dir und deinem Freunde gestehen kannst, daß du die Wurzel aller La-
ster in deinem Herzen fühlest; wenn du dich nicht tausendmal in der Einsamkeit, wo niemand
als Gott dich sahe, niemand als dein Herz mit dir sprach, vor dir selber tief geschämt hast --
wenn du nicht Stärke genug hast, dem Gange deiner Leidenschaften bis auf den ersten Fuß-
tritt nachzuspüren, und den ersten Stoß zu deinen guten und schlimmen Handlungen zu erfor-
schen -- und dir zu gestehen, Gott und einem Freunde zu gestehen; wenn du keinen Freund
hast, dem du's gestehen darfst -- keinen Freund, dem du dich ganz zeigen darfst, der dir
sich ganz zeigen darf, dem du Repräsentant des Menschengeschlechts, und der Gottheit bist; der
dir Repräsentant des Menschengeschlechts und der Gottheit ist; -- in dem du dich erspiegeln kannst,
der sich in dir erspiegeln kann; -- wenn du nicht ein guter edler Mensch bist -- so wirst du kein
guter, würdiger Menschenbeobachter, Menschenkenner, Physiognomist werden!

Soll
*) Allgem. deutsch. Bibliothek. XXIII. B. II. St. S. 327.
Phys. Fragm. I. Versuch. A a

Der Phyſiognomiſt.
„art vergleichen, und dasjenige, was allgemein zugegeben iſt, von demjenigen abſondern, was
„aus ſeiner individuellen Beobachtungsart entſtehet.“ *) — Jch laſſe dieſe wichtige Anmer-
kung itzt unberuͤhrt. Jch habe oben ſchon in dem Stuͤcke von den Schwierigkeiten, die Phy-
ſiognomik zu ſtudiren, und noch fruͤher ſchon eine aͤhnliche Anmerkung gemacht.

Alſo, will ich itzt nur noch bekraͤftigen, daß Kenntniß, genaue tiefe Kenntniß ſei-
nes eignen Herzens eines der trefflichſten Jngredienzien zu dem Character des Phyſiognomi-
ſten iſt ....

O — wie merk ich's mir an, wie ahnd' ich's mir in meinem Geſichte, wie muß ich
die Augen niederſchlagen und das Angeſicht wegwenden, — wie Menſchenaug und Spiegel
fliehen, wenn ich eine unedle Regung in mir wahrnehme! wie fuͤrcht' ich mich vor meinem ei-
gnen pruͤfenden Blicke, oder dem beobachtenden Blicke anderer, wenn ich mein Herz uͤber einem
unredlichen Kunſtgriffe gegen ſich ſelber oder andere ertappe — — O! Leſer, wenn du nicht
oft uͤber dir ſelber erroͤtheſt — wenn dich, und waͤreſt du auch der Beſte aller Menſchen, denn
auch der Beſte aller Menſchen iſt Menſch! — wenn dich dieſe Schaam nicht ſehr oft durch-
wandelt; wenn du nicht oft deine Augen vor dir und andern um deinet willen niederſchlagen
mußt; wenn du nicht dir und deinem Freunde geſtehen kannſt, daß du die Wurzel aller La-
ſter in deinem Herzen fuͤhleſt; wenn du dich nicht tauſendmal in der Einſamkeit, wo niemand
als Gott dich ſahe, niemand als dein Herz mit dir ſprach, vor dir ſelber tief geſchaͤmt haſt —
wenn du nicht Staͤrke genug haſt, dem Gange deiner Leidenſchaften bis auf den erſten Fuß-
tritt nachzuſpuͤren, und den erſten Stoß zu deinen guten und ſchlimmen Handlungen zu erfor-
ſchen — und dir zu geſtehen, Gott und einem Freunde zu geſtehen; wenn du keinen Freund
haſt, dem du's geſtehen darfſt — keinen Freund, dem du dich ganz zeigen darfſt, der dir
ſich ganz zeigen darf, dem du Repraͤſentant des Menſchengeſchlechts, und der Gottheit biſt; der
dir Repraͤſentant des Menſchengeſchlechts und der Gottheit iſt; — in dem du dich erſpiegeln kannſt,
der ſich in dir erſpiegeln kann; — wenn du nicht ein guter edler Menſch biſt — ſo wirſt du kein
guter, wuͤrdiger Menſchenbeobachter, Menſchenkenner, Phyſiognomiſt werden!

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*) Allgem. deutſch. Bibliothek. XXIII. B. II. St. S. 327.
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[177/0245] Der Phyſiognomiſt. „art vergleichen, und dasjenige, was allgemein zugegeben iſt, von demjenigen abſondern, was „aus ſeiner individuellen Beobachtungsart entſtehet.“ *) — Jch laſſe dieſe wichtige Anmer- kung itzt unberuͤhrt. Jch habe oben ſchon in dem Stuͤcke von den Schwierigkeiten, die Phy- ſiognomik zu ſtudiren, und noch fruͤher ſchon eine aͤhnliche Anmerkung gemacht. Alſo, will ich itzt nur noch bekraͤftigen, daß Kenntniß, genaue tiefe Kenntniß ſei- nes eignen Herzens eines der trefflichſten Jngredienzien zu dem Character des Phyſiognomi- ſten iſt .... O — wie merk ich's mir an, wie ahnd' ich's mir in meinem Geſichte, wie muß ich die Augen niederſchlagen und das Angeſicht wegwenden, — wie Menſchenaug und Spiegel fliehen, wenn ich eine unedle Regung in mir wahrnehme! wie fuͤrcht' ich mich vor meinem ei- gnen pruͤfenden Blicke, oder dem beobachtenden Blicke anderer, wenn ich mein Herz uͤber einem unredlichen Kunſtgriffe gegen ſich ſelber oder andere ertappe — — O! Leſer, wenn du nicht oft uͤber dir ſelber erroͤtheſt — wenn dich, und waͤreſt du auch der Beſte aller Menſchen, denn auch der Beſte aller Menſchen iſt Menſch! — wenn dich dieſe Schaam nicht ſehr oft durch- wandelt; wenn du nicht oft deine Augen vor dir und andern um deinet willen niederſchlagen mußt; wenn du nicht dir und deinem Freunde geſtehen kannſt, daß du die Wurzel aller La- ſter in deinem Herzen fuͤhleſt; wenn du dich nicht tauſendmal in der Einſamkeit, wo niemand als Gott dich ſahe, niemand als dein Herz mit dir ſprach, vor dir ſelber tief geſchaͤmt haſt — wenn du nicht Staͤrke genug haſt, dem Gange deiner Leidenſchaften bis auf den erſten Fuß- tritt nachzuſpuͤren, und den erſten Stoß zu deinen guten und ſchlimmen Handlungen zu erfor- ſchen — und dir zu geſtehen, Gott und einem Freunde zu geſtehen; wenn du keinen Freund haſt, dem du's geſtehen darfſt — keinen Freund, dem du dich ganz zeigen darfſt, der dir ſich ganz zeigen darf, dem du Repraͤſentant des Menſchengeſchlechts, und der Gottheit biſt; der dir Repraͤſentant des Menſchengeſchlechts und der Gottheit iſt; — in dem du dich erſpiegeln kannſt, der ſich in dir erſpiegeln kann; — wenn du nicht ein guter edler Menſch biſt — ſo wirſt du kein guter, wuͤrdiger Menſchenbeobachter, Menſchenkenner, Phyſiognomiſt werden! Soll *) Allgem. deutſch. Bibliothek. XXIII. B. II. St. S. 327. Phyſ. Fragm. I. Verſuch. A a

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/245>, abgerufen am 12.05.2024.