Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.Der Physiognomist. muß ein Schöpfer einer neuen Sprache seyn, die eben so bestimmt als angenehm, natürlich undverständlich ist. Alle Reiche der Natur, alle Nationen, alle Werke des Geistes, der Kunst und des Geschmackes, alle Magazine der Wörter müssen ihm zu Gebote stehen, und ihm darlei- hen, was er bedarf. Unentbehrlich ist ihm, wenn er in seinen Urtheilen sicher, und in seinen Bestimmun- Auch soll er die Anatomie des menschlichen Körpers und nicht nur derjenigen Theile, züglich
Der Phyſiognomiſt. muß ein Schoͤpfer einer neuen Sprache ſeyn, die eben ſo beſtimmt als angenehm, natuͤrlich undverſtaͤndlich iſt. Alle Reiche der Natur, alle Nationen, alle Werke des Geiſtes, der Kunſt und des Geſchmackes, alle Magazine der Woͤrter muͤſſen ihm zu Gebote ſtehen, und ihm darlei- hen, was er bedarf. Unentbehrlich iſt ihm, wenn er in ſeinen Urtheilen ſicher, und in ſeinen Beſtimmun- Auch ſoll er die Anatomie des menſchlichen Koͤrpers und nicht nur derjenigen Theile, zuͤglich
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0243" n="175"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Der Phyſiognomiſt</hi>.</hi></fw><lb/> muß ein Schoͤpfer einer neuen Sprache ſeyn, die eben ſo beſtimmt als angenehm, natuͤrlich und<lb/> verſtaͤndlich iſt. Alle Reiche der Natur, alle Nationen, alle Werke des Geiſtes, der Kunſt<lb/> und des Geſchmackes, alle Magazine der Woͤrter muͤſſen ihm zu Gebote ſtehen, und ihm darlei-<lb/> hen, was er bedarf.</p><lb/> <p>Unentbehrlich iſt ihm, wenn er in ſeinen Urtheilen ſicher, und in ſeinen Beſtimmun-<lb/> gen feſt ſeyn will, die Zeichnungskunſt. Ein Mahler von beſtimmter Theorie — der zu-<lb/> gleich Uebung hat; ein Arzt von beſtimmter Theorie, dem zugleich die wichtigſten Krankhei-<lb/> ten ſchon durch die Haͤnde gegangen — wie unendlich richtiger und ſicherer werden die von<lb/> Mahlerey und Arzneykunſt ſprechen oder ſchreiben koͤnnen, als gleich große, vielleicht als viel<lb/> groͤßere Theoriſten ohne Uebung? Zeichnung iſt die erſte, die natuͤrlichſte, die ſicherſte Spra-<lb/> che der Phyſiognomik; das beſte Huͤlfsmittel fuͤr die Jmagination; das einzige Mittel un-<lb/> zaͤhlige Merkmale, Ausdruͤcke und Nuͤances zu ſichern, zu bezeichnen, mittheilbar zu machen,<lb/> die nicht mit Worten, die ſonſt auf keine Weiſe zu beſchreiben ſind. Der Phyſiognomiſt,<lb/> der nicht zeichnen kann, ſchnell, richtig, beſtimmt, characteriſtiſch zeichnen — wird unzaͤh-<lb/> lige Beobachtungen nicht einmal zu machen, geſchweige zu behalten und mitzutheilen, im<lb/> Stande ſeyn.</p><lb/> <p>Auch ſoll er die Anatomie des menſchlichen Koͤrpers und nicht nur derjenigen Theile,<lb/> welche ſich dem Geſichte darſtellen, richtig verſtehen; er muß die Verbindung und den Gang,<lb/> auch die Aeußerung der Muskeln kennen; genau kennen die Proportion und den Zuſammen-<lb/> hang aller menſchlichen Gefaͤße und Gliedmaßen; das hoͤchſte Jdeal eines vollkommenen menſch-<lb/> lichen Koͤrpers wohl inne haben; nicht nur, um jede Unregelmaͤßigkeit, ſo wohl in den feſten<lb/> als in den muskuloͤſen Theilen, ſogleich zu bemerken, ſondern auch um alle dieſe Theile ſo-<lb/> gleich nennen zu koͤnnen, und alſo in ſeiner phyſiognomiſchen Sprache feſt zu ſeyn. Eben ſo<lb/> unentbehrlich iſt ihm die Phyſiologie oder die Lehre von der Vollkommenheit des menſchlichen<lb/> geſunden Koͤrpers. Er muß ferner die Temperamente genau kennen; nicht nur die aͤußer-<lb/> lich durch die verſchiedenen Blutmiſchungen beſtimmten Farben des Koͤrpers, ſein Air u. ſ. f.<lb/> ſondern auch die Beſtandtheile des Gebluͤtes, und die verſchiedene Proportion derſelben; vor-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">zuͤglich</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [175/0243]
Der Phyſiognomiſt.
muß ein Schoͤpfer einer neuen Sprache ſeyn, die eben ſo beſtimmt als angenehm, natuͤrlich und
verſtaͤndlich iſt. Alle Reiche der Natur, alle Nationen, alle Werke des Geiſtes, der Kunſt
und des Geſchmackes, alle Magazine der Woͤrter muͤſſen ihm zu Gebote ſtehen, und ihm darlei-
hen, was er bedarf.
Unentbehrlich iſt ihm, wenn er in ſeinen Urtheilen ſicher, und in ſeinen Beſtimmun-
gen feſt ſeyn will, die Zeichnungskunſt. Ein Mahler von beſtimmter Theorie — der zu-
gleich Uebung hat; ein Arzt von beſtimmter Theorie, dem zugleich die wichtigſten Krankhei-
ten ſchon durch die Haͤnde gegangen — wie unendlich richtiger und ſicherer werden die von
Mahlerey und Arzneykunſt ſprechen oder ſchreiben koͤnnen, als gleich große, vielleicht als viel
groͤßere Theoriſten ohne Uebung? Zeichnung iſt die erſte, die natuͤrlichſte, die ſicherſte Spra-
che der Phyſiognomik; das beſte Huͤlfsmittel fuͤr die Jmagination; das einzige Mittel un-
zaͤhlige Merkmale, Ausdruͤcke und Nuͤances zu ſichern, zu bezeichnen, mittheilbar zu machen,
die nicht mit Worten, die ſonſt auf keine Weiſe zu beſchreiben ſind. Der Phyſiognomiſt,
der nicht zeichnen kann, ſchnell, richtig, beſtimmt, characteriſtiſch zeichnen — wird unzaͤh-
lige Beobachtungen nicht einmal zu machen, geſchweige zu behalten und mitzutheilen, im
Stande ſeyn.
Auch ſoll er die Anatomie des menſchlichen Koͤrpers und nicht nur derjenigen Theile,
welche ſich dem Geſichte darſtellen, richtig verſtehen; er muß die Verbindung und den Gang,
auch die Aeußerung der Muskeln kennen; genau kennen die Proportion und den Zuſammen-
hang aller menſchlichen Gefaͤße und Gliedmaßen; das hoͤchſte Jdeal eines vollkommenen menſch-
lichen Koͤrpers wohl inne haben; nicht nur, um jede Unregelmaͤßigkeit, ſo wohl in den feſten
als in den muskuloͤſen Theilen, ſogleich zu bemerken, ſondern auch um alle dieſe Theile ſo-
gleich nennen zu koͤnnen, und alſo in ſeiner phyſiognomiſchen Sprache feſt zu ſeyn. Eben ſo
unentbehrlich iſt ihm die Phyſiologie oder die Lehre von der Vollkommenheit des menſchlichen
geſunden Koͤrpers. Er muß ferner die Temperamente genau kennen; nicht nur die aͤußer-
lich durch die verſchiedenen Blutmiſchungen beſtimmten Farben des Koͤrpers, ſein Air u. ſ. f.
ſondern auch die Beſtandtheile des Gebluͤtes, und die verſchiedene Proportion derſelben; vor-
zuͤglich
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |