Wer in seinem Leben einmal gesagt hat, oder es hätte sagen können -- "Es gilt mir "gleichviel, wie der Mensch aussehe! Jch geh auf seine Thaten, und nicht auf sein Gesicht;" einmal gesagt hat, oder es hätte sagen können: "Mir scheinen alle Stirnen gleich; ich kann an "den Ohren keinen Unterschied bemerken," oder so was; der unterstehe sich nie über die Phy- siognomie ein Wort zu reden.
Wer nicht sehr oft beym ersten Anblick einzelner Menschen, die sich ihm nähern, um etwas von ihm zu verlangen, oder etwas mit ihm zu behandeln, eine geheime Bewegung, Zu- oder Ab- neigung, Anziehung oder Widerstand fühlt, der wird in seinem Leben nie Physiognomist werden.
Wer einmal ein Wort davon fallen lassen, daß er Kunst mehr suche, als Wahrheit; mahleri- sche Manier höher schätze als Sicherheit der Zeichnung; wen der übermenschliche Fleiß im Bander- werf und sein poliertes elfenbeinernes Fleisch mehr rührt, als ein Kopf von Titian: wer sich nicht gern in Geßners Landschaften hineinträumt; in Bodmers Arche keinen Ort findet, wo sein Fuß ruhen kann; in Klopstocks Aposteln nicht die edelste Menschheit, in seinem Eloa nicht den Erzen- gel, in seinem Christus bey Samma nicht den Gottmensch fühlt; wem Goethe nur witzig, Her- der nur dunkel, Haller nur hart ist; wessen Herz nicht still und innig zittert vor dem Kopf des Antinous; wen Apollos Erhabenheit nicht erhebt; wer sie Winkelmannen nicht wenigstens nachfühlt; wer beym ersten Anblick dieser Trümmer alter idealischer Menschheit nicht über Verfall der Menschheit und ihrer Nachahmerinn, der Kunst, beynahe Thränen vergießt; wer auf den er- sten Anblick in den trefflichsten antiken Gemmen, im Cicero nicht den offnen Kopf, im Cäsar nicht den unternehmenden Muth, im Solon nicht tiefe Klugheit, im Brutus nicht unüberwindliche Festigkeit, im Plato nicht göttliche Weisheit; und in den neuern Medaillen eines Montesquieu nicht die höchste menschliche Sagacität, in Hallern nicht den heitern Blick voll Ueberlegung, und den untadelhaften Geschmack, in Locken nicht den tiefen Denker, in Voltairen nicht den witzrei- chen Satyr, auf den ersten Blick entdeckt -- wird in seinem Leben kein erträglicher Physiogno- miste werden.
Wer nicht verweilt beym Anblick und anbetendem Betrachten eines unbemerkt sich glau- benden -- Wohlthäters: wen die Stimme der Unschuld, und der unerfahrne Blick unentheilig- ter Keuschheit; wen der Anblick eines schlafenden hoffnungsvollen Kindes im Arm der auf seinen
Odem
XV.Fragment.
Wer in ſeinem Leben einmal geſagt hat, oder es haͤtte ſagen koͤnnen — „Es gilt mir „gleichviel, wie der Menſch ausſehe! Jch geh auf ſeine Thaten, und nicht auf ſein Geſicht;“ einmal geſagt hat, oder es haͤtte ſagen koͤnnen: „Mir ſcheinen alle Stirnen gleich; ich kann an „den Ohren keinen Unterſchied bemerken,“ oder ſo was; der unterſtehe ſich nie uͤber die Phy- ſiognomie ein Wort zu reden.
Wer nicht ſehr oft beym erſten Anblick einzelner Menſchen, die ſich ihm naͤhern, um etwas von ihm zu verlangen, oder etwas mit ihm zu behandeln, eine geheime Bewegung, Zu- oder Ab- neigung, Anziehung oder Widerſtand fuͤhlt, der wird in ſeinem Leben nie Phyſiognomiſt werden.
Wer einmal ein Wort davon fallen laſſen, daß er Kunſt mehr ſuche, als Wahrheit; mahleri- ſche Manier hoͤher ſchaͤtze als Sicherheit der Zeichnung; wen der uͤbermenſchliche Fleiß im Bander- werf und ſein poliertes elfenbeinernes Fleiſch mehr ruͤhrt, als ein Kopf von Titian: wer ſich nicht gern in Geßners Landſchaften hineintraͤumt; in Bodmers Arche keinen Ort findet, wo ſein Fuß ruhen kann; in Klopſtocks Apoſteln nicht die edelſte Menſchheit, in ſeinem Eloa nicht den Erzen- gel, in ſeinem Chriſtus bey Samma nicht den Gottmenſch fuͤhlt; wem Goethe nur witzig, Her- der nur dunkel, Haller nur hart iſt; weſſen Herz nicht ſtill und innig zittert vor dem Kopf des Antinous; wen Apollos Erhabenheit nicht erhebt; wer ſie Winkelmannen nicht wenigſtens nachfuͤhlt; wer beym erſten Anblick dieſer Truͤmmer alter idealiſcher Menſchheit nicht uͤber Verfall der Menſchheit und ihrer Nachahmerinn, der Kunſt, beynahe Thraͤnen vergießt; wer auf den er- ſten Anblick in den trefflichſten antiken Gemmen, im Cicero nicht den offnen Kopf, im Caͤſar nicht den unternehmenden Muth, im Solon nicht tiefe Klugheit, im Brutus nicht unuͤberwindliche Feſtigkeit, im Plato nicht goͤttliche Weisheit; und in den neuern Medaillen eines Montesquieu nicht die hoͤchſte menſchliche Sagacitaͤt, in Hallern nicht den heitern Blick voll Ueberlegung, und den untadelhaften Geſchmack, in Locken nicht den tiefen Denker, in Voltairen nicht den witzrei- chen Satyr, auf den erſten Blick entdeckt — wird in ſeinem Leben kein ertraͤglicher Phyſiogno- miſte werden.
Wer nicht verweilt beym Anblick und anbetendem Betrachten eines unbemerkt ſich glau- benden — Wohlthaͤters: wen die Stimme der Unſchuld, und der unerfahrne Blick unentheilig- ter Keuſchheit; wen der Anblick eines ſchlafenden hoffnungsvollen Kindes im Arm der auf ſeinen
Odem
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XV. Fragment.
Wer in ſeinem Leben einmal geſagt hat, oder es haͤtte ſagen koͤnnen — „Es gilt mir
„gleichviel, wie der Menſch ausſehe! Jch geh auf ſeine Thaten, und nicht auf ſein Geſicht;“
einmal geſagt hat, oder es haͤtte ſagen koͤnnen: „Mir ſcheinen alle Stirnen gleich; ich kann an
„den Ohren keinen Unterſchied bemerken,“ oder ſo was; der unterſtehe ſich nie uͤber die Phy-
ſiognomie ein Wort zu reden.
Wer nicht ſehr oft beym erſten Anblick einzelner Menſchen, die ſich ihm naͤhern, um etwas
von ihm zu verlangen, oder etwas mit ihm zu behandeln, eine geheime Bewegung, Zu- oder Ab-
neigung, Anziehung oder Widerſtand fuͤhlt, der wird in ſeinem Leben nie Phyſiognomiſt werden.
Wer einmal ein Wort davon fallen laſſen, daß er Kunſt mehr ſuche, als Wahrheit; mahleri-
ſche Manier hoͤher ſchaͤtze als Sicherheit der Zeichnung; wen der uͤbermenſchliche Fleiß im Bander-
werf und ſein poliertes elfenbeinernes Fleiſch mehr ruͤhrt, als ein Kopf von Titian: wer ſich nicht
gern in Geßners Landſchaften hineintraͤumt; in Bodmers Arche keinen Ort findet, wo ſein Fuß
ruhen kann; in Klopſtocks Apoſteln nicht die edelſte Menſchheit, in ſeinem Eloa nicht den Erzen-
gel, in ſeinem Chriſtus bey Samma nicht den Gottmenſch fuͤhlt; wem Goethe nur witzig, Her-
der nur dunkel, Haller nur hart iſt; weſſen Herz nicht ſtill und innig zittert vor dem Kopf des
Antinous; wen Apollos Erhabenheit nicht erhebt; wer ſie Winkelmannen nicht wenigſtens
nachfuͤhlt; wer beym erſten Anblick dieſer Truͤmmer alter idealiſcher Menſchheit nicht uͤber Verfall
der Menſchheit und ihrer Nachahmerinn, der Kunſt, beynahe Thraͤnen vergießt; wer auf den er-
ſten Anblick in den trefflichſten antiken Gemmen, im Cicero nicht den offnen Kopf, im Caͤſar nicht
den unternehmenden Muth, im Solon nicht tiefe Klugheit, im Brutus nicht unuͤberwindliche
Feſtigkeit, im Plato nicht goͤttliche Weisheit; und in den neuern Medaillen eines Montesquieu
nicht die hoͤchſte menſchliche Sagacitaͤt, in Hallern nicht den heitern Blick voll Ueberlegung, und
den untadelhaften Geſchmack, in Locken nicht den tiefen Denker, in Voltairen nicht den witzrei-
chen Satyr, auf den erſten Blick entdeckt — wird in ſeinem Leben kein ertraͤglicher Phyſiogno-
miſte werden.
Wer nicht verweilt beym Anblick und anbetendem Betrachten eines unbemerkt ſich glau-
benden — Wohlthaͤters: wen die Stimme der Unſchuld, und der unerfahrne Blick unentheilig-
ter Keuſchheit; wen der Anblick eines ſchlafenden hoffnungsvollen Kindes im Arm der auf ſeinen
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/240>, abgerufen am 16.02.2025.
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