Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.Der Physiognomist. Wie waren die Alten hierinn so überlegend und scharfprüfend! wie könnens ach! so weni- "Wer einen Leibesmangel hatte; blind oder lahm war, oder eine eingedrückte Nase hatte, "Das Aug' ist des Leibes Licht: wenn nun dein Aug' einfältig ist, so ist auch dein Diese Worte kann der nicht genug erwägen, nicht tief genug erforschen, der Physiognomist Einfältiges Auge, und das alles sieht, wie's ist, nichts hineinsehen, nichts übersehen, nichts Wer dieß nicht versteht -- nie unterstehe sich der ein Wort über Physiognomie oder Phy- Wer *) Aus einem Schreiben eines Freundes. **) III. B. Mos. XXI. 17-23. ***) Matth. VI. 22. 23. Luc. XI. 34. 35. 36. Z 2
Der Phyſiognomiſt. Wie waren die Alten hierinn ſo uͤberlegend und ſcharfpruͤfend! wie koͤnnens ach! ſo weni- „Wer einen Leibesmangel hatte; blind oder lahm war, oder eine eingedruͤckte Naſe hatte, „Das Aug' iſt des Leibes Licht: wenn nun dein Aug' einfaͤltig iſt, ſo iſt auch dein Dieſe Worte kann der nicht genug erwaͤgen, nicht tief genug erforſchen, der Phyſiognomiſt Einfaͤltiges Auge, und das alles ſieht, wie's iſt, nichts hineinſehen, nichts uͤberſehen, nichts Wer dieß nicht verſteht — nie unterſtehe ſich der ein Wort uͤber Phyſiognomie oder Phy- Wer *) Aus einem Schreiben eines Freundes. **) III. B. Moſ. XXI. 17-23. ***) Matth. VI. 22. 23. Luc. XI. 34. 35. 36. Z 2
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Der Phyſiognomiſt.
Wie waren die Alten hierinn ſo uͤberlegend und ſcharfpruͤfend! wie koͤnnens ach! ſo weni-
ge unter uns ſeyn, — „in unſern lauen polizirten lieben Verfaſſungen und Himmelsſtrichen —
„denn was noch von phyſiſcher Kraft aus den Lenden unſerer Vaͤter zu uns uͤbergedunſtet ſeyn
„mag, iſt durch ſchoͤne Wiſſenſchaften und warme Stuben, und die elende Speiſe, und den toͤdtli-
„chen Genuß unſerer neuweltiſchen Getraͤnke ſo verduͤnnet, oder verſaͤuert, daß ich gar nichts da-
„von reden oder hoͤren mag.“ *)
„Wer einen Leibesmangel hatte; blind oder lahm war, oder eine eingedruͤckte Naſe hatte,
„oder Glieder, die ſich nicht ſchicken; oder hoͤckericht, oder unnatuͤrlich duͤnne war; der durfte ſich
„nicht hinzunahen zum Altar des Herrn, **) “ — und ins Heiligthum der Phyſiognomik ſoll ſich
keiner wagen, der eine krumme Seele, eine verworrene Stirn, ein ſchiefes Auge, einen verzoge-
nen Mund hat. —
„Das Aug' iſt des Leibes Licht: wenn nun dein Aug' einfaͤltig iſt, ſo iſt auch dein
„ganzer Leib heiter. Wenn es aber boͤs iſt, ſo iſt auch dein Leib finſter. So ſiehe nun, ob
„nicht das Licht, das in dir iſt, Finſterniß ſey. Denn, wenn das Licht, das in dir iſt, Fin-
„ſterniß iſt, wie groß wird dann die Finſterniß ſeyn? Wenn aber dein ganzer Leib heiter iſt, alſo
„daß er keinen finſtern Theil hat, ſo wird's eben ſo viel ſeyn, als ob ein Licht dich mit Glanz er-
„leuchtete?“ ***)
Dieſe Worte kann der nicht genug erwaͤgen, nicht tief genug erforſchen, der Phyſiognomiſt
werden will.
Einfaͤltiges Auge, und das alles ſieht, wie's iſt, nichts hineinſehen, nichts uͤberſehen, nichts
ſchief ſehen, alles nur gerade ſehen will, was und wie es ſich ihm darſtellt — O du vollkommen-
ſtes Bild der Vernunft und Weisheit! Was ſag ich: Bild? Du einzige wahre Vernunft und
Weisheit — ohne dich, helles Licht, wird alles in und um den Phyſiognomiſten herum dunkel ſeyn.
Wer dieß nicht verſteht — nie unterſtehe ſich der ein Wort uͤber Phyſiognomie oder Phy-
ſiognomik zu faſeln? Hier fluͤchtige Leſer und ſeichte Beurtheiler — ohn' Augen und ohne Licht —
hier ein Zielpunkt eures Spottes, und ein Ruheplatz ſeelenloſen Gelaͤchters ....
Wer
*) Aus einem Schreiben eines Freundes.
**) III. B. Moſ. XXI. 17-23.
***) Matth. VI. 22. 23. Luc. XI. 34. 35. 36.
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