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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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Vom Schaden der Physiognomik.

"Diese schlimme Handlung, und hier eine unrechte, und dort eine zweydeutige!" sagt ihr.
Nun gut; aber ist sie auch pünktlich erzählt? wie schwer ist dieß! und in welchen Umständen allen?
Jn welcher Verbindung? Mit welchen dabey vorgegangenen Gemüthsbewegungen, mit welchen
dabey erregten Trieben und Empfindungen? "Das wissen wir freylich nicht alles so genau?" Das
glaub ich wahrlich! Jhr wißt das eben nicht alles so genau! und das soll nun das sichre Funda-
ment
der Beurtheilung -- des entscheidenden Urtheils über den Character, über das Herz eines
Menschen seyn? --

O wie lob ich mir da das weit sichrere Fundament der Beurtheilung eines Menschen --
die Physiognomie seines Angesichts, seiner ganzen Gestalt und Gebehrden, als einige Handlungen,
außer ihrem Zusammenhange mit allen Umständen heraus geschnitten!

Jch höre K ... ist ein hitziger gähzorniger Mann? woher weiß man das? Aus Hand-
lungen. Gut: ich bekomm' ihn zu sehen, und erstaune über den Ausdruck der Sanftmuth und
des bescheidenen Wesens, den ich in seinem Angesicht und seinem ganzen Wesen erblicke. Jch seh'
in ihm einen sanften aber geistreichen Mann, der allenfalls zürnen kann, (wer's nicht kann, ist kein
Mann; wer's nicht kann, dessen Sanftmuth ist keine ächte Tugend;) ich seh' ihn -- aber gar
nicht den hitzigen, den gähzornigen Cholerikus! Nun ruh ich nicht, bis ich die Anekdoten, die ihn
als einen hitzigen Mann taxirten, bis auf den Grund weiß. Und siehe da! der Mann hat sich ei-
nigemale in unbescheidenen Ausdrücken vergangen; und warum? -- ach, ein stolzer vornehmer
Herr -- reizt' ihn durch die ungerechteste Zumuthung!

Ein anderer -- er soll sehr große Einkünfte haben; und dennoch seine Tafel, sein Hausge-
räthe und seine Kleider -- wie eingeschränkt! -- Diese Mäßigkeit gefällt mir; ich lobe sie -- und
gleich fährt man zu: "Was sie sagen! Sie sind an den Rechten gekommen! der Knicker mag sich das
"Eßen kaum gönnen!" Jch zucke die Achseln und denk' und sage: "dieß weiß ich mit dem edeln,
"gütigen Wesen seines Angesichts, der offnen Natürlichkeit seines Betragens nicht zusammen zu
"reimen." Und nach kurzer Zeit werd ich inne, daß dieser Edle, den die ganze Stadt für einen
Knicker ausschreyt, alles mögliche aufhebt, und seinem angesehenen, aber ehemals verschwenderi-
schen Vater zusendet, um ihn von einer drückenden Schuldenlast zu befreyen!

"Dieser
Vom Schaden der Phyſiognomik.

„Dieſe ſchlimme Handlung, und hier eine unrechte, und dort eine zweydeutige!“ ſagt ihr.
Nun gut; aber iſt ſie auch puͤnktlich erzaͤhlt? wie ſchwer iſt dieß! und in welchen Umſtaͤnden allen?
Jn welcher Verbindung? Mit welchen dabey vorgegangenen Gemuͤthsbewegungen, mit welchen
dabey erregten Trieben und Empfindungen? „Das wiſſen wir freylich nicht alles ſo genau?“ Das
glaub ich wahrlich! Jhr wißt das eben nicht alles ſo genau! und das ſoll nun das ſichre Funda-
ment
der Beurtheilung — des entſcheidenden Urtheils uͤber den Character, uͤber das Herz eines
Menſchen ſeyn? —

O wie lob ich mir da das weit ſichrere Fundament der Beurtheilung eines Menſchen —
die Phyſiognomie ſeines Angeſichts, ſeiner ganzen Geſtalt und Gebehrden, als einige Handlungen,
außer ihrem Zuſammenhange mit allen Umſtaͤnden heraus geſchnitten!

Jch hoͤre K ... iſt ein hitziger gaͤhzorniger Mann? woher weiß man das? Aus Hand-
lungen. Gut: ich bekomm' ihn zu ſehen, und erſtaune uͤber den Ausdruck der Sanftmuth und
des beſcheidenen Weſens, den ich in ſeinem Angeſicht und ſeinem ganzen Weſen erblicke. Jch ſeh'
in ihm einen ſanften aber geiſtreichen Mann, der allenfalls zuͤrnen kann, (wer's nicht kann, iſt kein
Mann; wer's nicht kann, deſſen Sanftmuth iſt keine aͤchte Tugend;) ich ſeh' ihn — aber gar
nicht den hitzigen, den gaͤhzornigen Cholerikus! Nun ruh ich nicht, bis ich die Anekdoten, die ihn
als einen hitzigen Mann taxirten, bis auf den Grund weiß. Und ſiehe da! der Mann hat ſich ei-
nigemale in unbeſcheidenen Ausdruͤcken vergangen; und warum? — ach, ein ſtolzer vornehmer
Herr — reizt' ihn durch die ungerechteſte Zumuthung!

Ein anderer — er ſoll ſehr große Einkuͤnfte haben; und dennoch ſeine Tafel, ſein Hausge-
raͤthe und ſeine Kleider — wie eingeſchraͤnkt! — Dieſe Maͤßigkeit gefaͤllt mir; ich lobe ſie — und
gleich faͤhrt man zu: „Was ſie ſagen! Sie ſind an den Rechten gekommen! der Knicker mag ſich das
„Eßen kaum goͤnnen!“ Jch zucke die Achſeln und denk' und ſage: „dieß weiß ich mit dem edeln,
„guͤtigen Weſen ſeines Angeſichts, der offnen Natuͤrlichkeit ſeines Betragens nicht zuſammen zu
„reimen.“ Und nach kurzer Zeit werd ich inne, daß dieſer Edle, den die ganze Stadt fuͤr einen
Knicker ausſchreyt, alles moͤgliche aufhebt, und ſeinem angeſehenen, aber ehemals verſchwenderi-
ſchen Vater zuſendet, um ihn von einer druͤckenden Schuldenlaſt zu befreyen!

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/235>, abgerufen am 13.05.2024.