Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.XIV. Fragment. Obs nun hierinn so viel schaden könne, wenn man die Menschen, anstatt dunkler, etwas klärer unddeutlicher urtheilen lehrt; anstatt sie mit grobem Gefühl unrichtig und verworren urtheilen zu lassen, sie mit verfeinertem Gefühl richtig urtheilen lehrt; anstatt sie derb hinein tappen, und mit physiogno- mischen Urtheilen um sich hauen zu lassen, sie durch das Beyspiel erfahrner Physiognomisten und durch Regeln der Klugheit und Behutsamkeit, und durch die erhobene Stimme der Menschenliebe, wo sie Böses zu sehen vermeynt, mißtrauisch in ihre Physiognomik, und behutsam im Urtheilen zu machen strebt -- ob dieß alles so sehr schaden könne? laß ich jedem zu beurtheilen über! Das sag ich laut und feyerlich auch bey dieser Gelegenheit; "wer aller meiner Warnungen 2) Jch glaube, behaupten zu dürfen, daß sehr wenige Menschen um deswillen von neuem Leider, auch ohne daß die Physiognomik Anlaß dazu giebt, wissen viele ihren Geist und ihr Und was ists denn, was in tausend Fällen das Fundament der kühnsten und entscheidend- "Diese
XIV. Fragment. Obs nun hierinn ſo viel ſchaden koͤnne, wenn man die Menſchen, anſtatt dunkler, etwas klaͤrer unddeutlicher urtheilen lehrt; anſtatt ſie mit grobem Gefuͤhl unrichtig und verworren urtheilen zu laſſen, ſie mit verfeinertem Gefuͤhl richtig urtheilen lehrt; anſtatt ſie derb hinein tappen, und mit phyſiogno- miſchen Urtheilen um ſich hauen zu laſſen, ſie durch das Beyſpiel erfahrner Phyſiognomiſten und durch Regeln der Klugheit und Behutſamkeit, und durch die erhobene Stimme der Menſchenliebe, wo ſie Boͤſes zu ſehen vermeynt, mißtrauiſch in ihre Phyſiognomik, und behutſam im Urtheilen zu machen ſtrebt — ob dieß alles ſo ſehr ſchaden koͤnne? laß ich jedem zu beurtheilen uͤber! Das ſag ich laut und feyerlich auch bey dieſer Gelegenheit; „wer aller meiner Warnungen 2) Jch glaube, behaupten zu duͤrfen, daß ſehr wenige Menſchen um deswillen von neuem Leider, auch ohne daß die Phyſiognomik Anlaß dazu giebt, wiſſen viele ihren Geiſt und ihr Und was iſts denn, was in tauſend Faͤllen das Fundament der kuͤhnſten und entſcheidend- „Dieſe
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0234" n="166"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi><hi rendition="#g">Fragment</hi>.</hi></fw><lb/> Obs nun hierinn ſo viel ſchaden koͤnne, wenn man die Menſchen, anſtatt dunkler, etwas klaͤrer und<lb/> deutlicher urtheilen lehrt; anſtatt ſie mit grobem Gefuͤhl unrichtig und verworren urtheilen zu laſſen,<lb/> ſie mit verfeinertem Gefuͤhl richtig urtheilen lehrt; anſtatt ſie derb hinein tappen, und mit phyſiogno-<lb/> miſchen Urtheilen um ſich hauen zu laſſen, ſie durch das Beyſpiel erfahrner Phyſiognomiſten und<lb/> durch Regeln der Klugheit und Behutſamkeit, und durch die erhobene Stimme der Menſchenliebe,<lb/> wo ſie Boͤſes zu ſehen vermeynt, mißtrauiſch in ihre Phyſiognomik, und behutſam im Urtheilen<lb/> zu machen ſtrebt — ob dieß alles ſo ſehr ſchaden koͤnne? laß ich jedem zu beurtheilen uͤber!</p><lb/> <p>Das ſag ich laut und feyerlich auch bey dieſer Gelegenheit; „wer aller meiner Warnungen<lb/> „nicht achtet; nicht achtet aller angefuͤhrten Gruͤnde und Beyſpiele von der leichten Moͤglichkeit,<lb/> „ſich noch zu irren; nicht achtet alles dringenden Zurufs der Menſchenfreundlichkeit — und hingeht<lb/> „und wie mit einem Meſſer in der Hand umher wuͤtet und ſeiner Bruͤder Redlichkeit und guten<lb/> „Namen damit ermordet, — der thue es auf ſeinen Kopf; und meine Seele ſey rein von ſeiner<lb/> „Schuld, wenn einſt alles Boͤſe ans Licht kommen und ſeine Strafe empfangen wird, und unter<lb/> „allem die ſchaͤrfſte das unbruͤderliche Richten.“</p><lb/> <p>2) Jch glaube, behaupten zu duͤrfen, daß ſehr wenige Menſchen um deswillen von neuem<lb/> anfangen werden, andere Menſchen unbruͤderlich zu belauren, zu beobachten und zu richten, die es<lb/> ſonſt nicht gethan haben.</p><lb/> <p>Leider, auch ohne daß die Phyſiognomik Anlaß dazu giebt, wiſſen viele ihren Geiſt und ihr<lb/> Herz, fuͤr ſich allein und im Umgange, mit nichts anderm zu naͤhren und zu unterhalten, als mit<lb/> Beurtheilung anderer, und was andre thun und laſſen, was anderen begegnet und warum es ihnen<lb/> begegnet; was ſie ſeyn und nicht ſeyn; was ſie im Schilde fuͤhren, und was von ihnen zu erwar-<lb/> ten ſtehe, was ihr Character, ihr Herz werth ſey u. ſ. f. — Ja das alles wird beobachtet, belau-<lb/> ret, erzaͤhlt, gewogen, beurtheilt, behauptet — herum getraͤtſcht von ſolchen Leuten.</p><lb/> <p>Und was iſts denn, was in tauſend Faͤllen das Fundament der kuͤhnſten und entſcheidend-<lb/> ſten Urtheile uͤber den Geiſt und vornehmlich uͤber das Herz und den Character eines Menſchen ab-<lb/> giebt? Eine Handlung, ein Wort — eine Anekdote, die herum geboten wird — vielleicht etliche<lb/> Handlungen, etliche Anekdoͤtchen — die aber ganz gewiß wahr ſeyn ſollen? Nun, wir wollen's ſeyn<lb/> laſſen; wollen ſehen, was dann das fuͤr ein ſichres Fundament der Beurtheilung der Character ſey?</p><lb/> <fw place="bottom" type="catch">„Dieſe</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [166/0234]
XIV. Fragment.
Obs nun hierinn ſo viel ſchaden koͤnne, wenn man die Menſchen, anſtatt dunkler, etwas klaͤrer und
deutlicher urtheilen lehrt; anſtatt ſie mit grobem Gefuͤhl unrichtig und verworren urtheilen zu laſſen,
ſie mit verfeinertem Gefuͤhl richtig urtheilen lehrt; anſtatt ſie derb hinein tappen, und mit phyſiogno-
miſchen Urtheilen um ſich hauen zu laſſen, ſie durch das Beyſpiel erfahrner Phyſiognomiſten und
durch Regeln der Klugheit und Behutſamkeit, und durch die erhobene Stimme der Menſchenliebe,
wo ſie Boͤſes zu ſehen vermeynt, mißtrauiſch in ihre Phyſiognomik, und behutſam im Urtheilen
zu machen ſtrebt — ob dieß alles ſo ſehr ſchaden koͤnne? laß ich jedem zu beurtheilen uͤber!
Das ſag ich laut und feyerlich auch bey dieſer Gelegenheit; „wer aller meiner Warnungen
„nicht achtet; nicht achtet aller angefuͤhrten Gruͤnde und Beyſpiele von der leichten Moͤglichkeit,
„ſich noch zu irren; nicht achtet alles dringenden Zurufs der Menſchenfreundlichkeit — und hingeht
„und wie mit einem Meſſer in der Hand umher wuͤtet und ſeiner Bruͤder Redlichkeit und guten
„Namen damit ermordet, — der thue es auf ſeinen Kopf; und meine Seele ſey rein von ſeiner
„Schuld, wenn einſt alles Boͤſe ans Licht kommen und ſeine Strafe empfangen wird, und unter
„allem die ſchaͤrfſte das unbruͤderliche Richten.“
2) Jch glaube, behaupten zu duͤrfen, daß ſehr wenige Menſchen um deswillen von neuem
anfangen werden, andere Menſchen unbruͤderlich zu belauren, zu beobachten und zu richten, die es
ſonſt nicht gethan haben.
Leider, auch ohne daß die Phyſiognomik Anlaß dazu giebt, wiſſen viele ihren Geiſt und ihr
Herz, fuͤr ſich allein und im Umgange, mit nichts anderm zu naͤhren und zu unterhalten, als mit
Beurtheilung anderer, und was andre thun und laſſen, was anderen begegnet und warum es ihnen
begegnet; was ſie ſeyn und nicht ſeyn; was ſie im Schilde fuͤhren, und was von ihnen zu erwar-
ten ſtehe, was ihr Character, ihr Herz werth ſey u. ſ. f. — Ja das alles wird beobachtet, belau-
ret, erzaͤhlt, gewogen, beurtheilt, behauptet — herum getraͤtſcht von ſolchen Leuten.
Und was iſts denn, was in tauſend Faͤllen das Fundament der kuͤhnſten und entſcheidend-
ſten Urtheile uͤber den Geiſt und vornehmlich uͤber das Herz und den Character eines Menſchen ab-
giebt? Eine Handlung, ein Wort — eine Anekdote, die herum geboten wird — vielleicht etliche
Handlungen, etliche Anekdoͤtchen — die aber ganz gewiß wahr ſeyn ſollen? Nun, wir wollen's ſeyn
laſſen; wollen ſehen, was dann das fuͤr ein ſichres Fundament der Beurtheilung der Character ſey?
„Dieſe
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |