Vierzehntes Fragment. Vom Schaden der Physiognomik.
"Odu, der du sonst ein Freund der Religion und der Tugend bist, was machst du da?" -- hör ich mir eine redliche Seele entgegen rufen! -- "O wie viel Unheil wirst du stiften mit deiner "Physiognomik? Du willst den Menschen die unselige Kunst lehren, seinen Bruder auch aus jeder "zweydeutigen Miene zu richten? des Splitterrichtens, der Tadelsucht, des Auflaurens auf anderer "Mistritte soll noch nicht genug seyn? Du willst die Menschen auch noch lehren auflauren auf des "Herzens Geheimnisse, die tiefsten Fehler, auf jeden Mistritt der Gedanken? -- Sieh von nun an, "mit scharfem Blick -- mit bewaffnetem Auge überall nur Beobachter! Nur Physiognomienbeob- "achter in Gesellschaften -- bey Leichenbegängnissen -- in der Kirche -- wo sie hin kommen, diese "Beobachter, sie hören nichts mehr, empfinden nichts, nehmen an nichts Antheil; sie beobachten "nur Physiognomien, belauschen nur Herzen; diese alle hast du, hat dein Werk entzündet -- und "es flammt und wütet in ihnen, das unreine Feuer der Richter- und Tadelsucht, und verzehrt jeden "Rest von Tugend und Menschenliebe in ihrem Herzen!"
"O! du sprichst von dem Nutzen deiner Physiognomik, daß du die Menschen Schönheit des "Ausdrucks der Tugend, und der Häßlichkeit des Lasters erkennen und fühlen lehrest, und sie so "zur Tugend reizest? sie mit Abscheu vor dem Laster auch durch das Gefühl seiner äußerlichen "Häßlichkeit erfüllest? -- Dieß käme also, genauer betrachtet, auf das hinaus; daß der Mensch "soll lernen gut werden, damit er gut scheine? daß das so schon eitle Geschöpf, das gern immer nur "um Lob handelt, gern immer nur scheint, was es seyn sollte, noch eitler werde -- nicht nur "mit jeder That und jedem Worte, sondern selbst noch mit Mienen, jeglicher Miene, um Hochach- "tung und Liebe -- und Lob der Menschen -- buhle? Statt diese nur allzumächtige Trieb- "feder menschlicher Handlungen zu schwächen, und eine bessere zu stärken; statt den Menschen "in sich zu weisen -- sein Jnnwendiges zu bessern, ihn zu lehren, in Stille gut seyn, und "unschuldig -- ohne über den schönen Ausdruck des Guten, des Häßlichen, des Bösen mit ihm "zu räsonniren." -- --
Jch
Y 2
Vierzehntes Fragment. Vom Schaden der Phyſiognomik.
„Odu, der du ſonſt ein Freund der Religion und der Tugend biſt, was machſt du da?“ — hoͤr ich mir eine redliche Seele entgegen rufen! — „O wie viel Unheil wirſt du ſtiften mit deiner „Phyſiognomik? Du willſt den Menſchen die unſelige Kunſt lehren, ſeinen Bruder auch aus jeder „zweydeutigen Miene zu richten? des Splitterrichtens, der Tadelſucht, des Auflaurens auf anderer „Mistritte ſoll noch nicht genug ſeyn? Du willſt die Menſchen auch noch lehren auflauren auf des „Herzens Geheimniſſe, die tiefſten Fehler, auf jeden Mistritt der Gedanken? — Sieh von nun an, „mit ſcharfem Blick — mit bewaffnetem Auge uͤberall nur Beobachter! Nur Phyſiognomienbeob- „achter in Geſellſchaften — bey Leichenbegaͤngniſſen — in der Kirche — wo ſie hin kommen, dieſe „Beobachter, ſie hoͤren nichts mehr, empfinden nichts, nehmen an nichts Antheil; ſie beobachten „nur Phyſiognomien, belauſchen nur Herzen; dieſe alle haſt du, hat dein Werk entzuͤndet — und „es flammt und wuͤtet in ihnen, das unreine Feuer der Richter- und Tadelſucht, und verzehrt jeden „Reſt von Tugend und Menſchenliebe in ihrem Herzen!“
„O! du ſprichſt von dem Nutzen deiner Phyſiognomik, daß du die Menſchen Schoͤnheit des „Ausdrucks der Tugend, und der Haͤßlichkeit des Laſters erkennen und fuͤhlen lehreſt, und ſie ſo „zur Tugend reizeſt? ſie mit Abſcheu vor dem Laſter auch durch das Gefuͤhl ſeiner aͤußerlichen „Haͤßlichkeit erfuͤlleſt? — Dieß kaͤme alſo, genauer betrachtet, auf das hinaus; daß der Menſch „ſoll lernen gut werden, damit er gut ſcheine? daß das ſo ſchon eitle Geſchoͤpf, das gern immer nur „um Lob handelt, gern immer nur ſcheint, was es ſeyn ſollte, noch eitler werde — nicht nur „mit jeder That und jedem Worte, ſondern ſelbſt noch mit Mienen, jeglicher Miene, um Hochach- „tung und Liebe — und Lob der Menſchen — buhle? Statt dieſe nur allzumaͤchtige Trieb- „feder menſchlicher Handlungen zu ſchwaͤchen, und eine beſſere zu ſtaͤrken; ſtatt den Menſchen „in ſich zu weiſen — ſein Jnnwendiges zu beſſern, ihn zu lehren, in Stille gut ſeyn, und „unſchuldig — ohne uͤber den ſchoͤnen Ausdruck des Guten, des Haͤßlichen, des Boͤſen mit ihm „zu raͤſonniren.“ — —
Jch
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Vierzehntes Fragment.
Vom Schaden der Phyſiognomik.
„Odu, der du ſonſt ein Freund der Religion und der Tugend biſt, was machſt du da?“ — hoͤr ich
mir eine redliche Seele entgegen rufen! — „O wie viel Unheil wirſt du ſtiften mit deiner
„Phyſiognomik? Du willſt den Menſchen die unſelige Kunſt lehren, ſeinen Bruder auch aus jeder
„zweydeutigen Miene zu richten? des Splitterrichtens, der Tadelſucht, des Auflaurens auf anderer
„Mistritte ſoll noch nicht genug ſeyn? Du willſt die Menſchen auch noch lehren auflauren auf des
„Herzens Geheimniſſe, die tiefſten Fehler, auf jeden Mistritt der Gedanken? — Sieh von nun an,
„mit ſcharfem Blick — mit bewaffnetem Auge uͤberall nur Beobachter! Nur Phyſiognomienbeob-
„achter in Geſellſchaften — bey Leichenbegaͤngniſſen — in der Kirche — wo ſie hin kommen, dieſe
„Beobachter, ſie hoͤren nichts mehr, empfinden nichts, nehmen an nichts Antheil; ſie beobachten
„nur Phyſiognomien, belauſchen nur Herzen; dieſe alle haſt du, hat dein Werk entzuͤndet — und
„es flammt und wuͤtet in ihnen, das unreine Feuer der Richter- und Tadelſucht, und verzehrt jeden
„Reſt von Tugend und Menſchenliebe in ihrem Herzen!“
„O! du ſprichſt von dem Nutzen deiner Phyſiognomik, daß du die Menſchen Schoͤnheit des
„Ausdrucks der Tugend, und der Haͤßlichkeit des Laſters erkennen und fuͤhlen lehreſt, und ſie ſo
„zur Tugend reizeſt? ſie mit Abſcheu vor dem Laſter auch durch das Gefuͤhl ſeiner aͤußerlichen
„Haͤßlichkeit erfuͤlleſt? — Dieß kaͤme alſo, genauer betrachtet, auf das hinaus; daß der Menſch
„ſoll lernen gut werden, damit er gut ſcheine? daß das ſo ſchon eitle Geſchoͤpf, das gern immer nur
„um Lob handelt, gern immer nur ſcheint, was es ſeyn ſollte, noch eitler werde — nicht nur
„mit jeder That und jedem Worte, ſondern ſelbſt noch mit Mienen, jeglicher Miene, um Hochach-
„tung und Liebe — und Lob der Menſchen — buhle? Statt dieſe nur allzumaͤchtige Trieb-
„feder menſchlicher Handlungen zu ſchwaͤchen, und eine beſſere zu ſtaͤrken; ſtatt den Menſchen
„in ſich zu weiſen — ſein Jnnwendiges zu beſſern, ihn zu lehren, in Stille gut ſeyn, und
„unſchuldig — ohne uͤber den ſchoͤnen Ausdruck des Guten, des Haͤßlichen, des Boͤſen mit ihm
„zu raͤſonniren.“ — —
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/231>, abgerufen am 16.02.2025.
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