Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.XII. Fragment. Von der Leichtigkeit befriedigen? Sie, die dem Menschen noch wohl tiefere, und doch weniger brauchbare, der Gesell-schaft viel gleichgültigere Geheimnisse darbot, und seinem forschenden Blick aufschloß? -- Sie, die ihm Wege zeigte, die Bahn der Cometen auszuspähen und ihre Krümmung zu messen? -- Sie, die dem Menschen das Fernglas in die Hände gab, die Trabanten der Planeten auszuspü- ren, und Verstand in seine Stirne, die Finsternisse derselben auf Jahrhunderte zu berechnen? Diese zärtliche Mutter sollt's ihren Kindern, ihren Wahrheit suchenden Schülern, den edlen menschen- freundlichen Seelen, die sich so gern der Herrlichkeit des Allherrlichen in seinem Meisterstücke freuen möchten -- so schwer machen, in dem immer offnen, immer nahen -- Antlitze des Men- schen zu lesen? des Menschen, des Schönsten aller ihrer Werke? des Menschen, dieses Jnnbe- griffs aller Dinge -- dieses Spiegels der Gottheit, dieses Wiederscheins von Himmel und Erde -- des Menschen, der uns in allen Absichten das Wichtigste -- und in so mancher Absicht unser Bruder ist? O! Mensch mit gesundem Verstande, kannst du solches glauben? dieses der besten, der O -- erwache, die dir tausendfach begegnende Menschheit anzuschauen! Du kannst hier Fühle das Bedürfniß sichrer Menschenkenntniß; und glaube, daß ein großer Theil die- Das große Geheimniß, sich alles leicht zu machen, besteht in der Analysirung, (Zerglie- Welche
XII. Fragment. Von der Leichtigkeit befriedigen? Sie, die dem Menſchen noch wohl tiefere, und doch weniger brauchbare, der Geſell-ſchaft viel gleichguͤltigere Geheimniſſe darbot, und ſeinem forſchenden Blick aufſchloß? — Sie, die ihm Wege zeigte, die Bahn der Cometen auszuſpaͤhen und ihre Kruͤmmung zu meſſen? — Sie, die dem Menſchen das Fernglas in die Haͤnde gab, die Trabanten der Planeten auszuſpuͤ- ren, und Verſtand in ſeine Stirne, die Finſterniſſe derſelben auf Jahrhunderte zu berechnen? Dieſe zaͤrtliche Mutter ſollt's ihren Kindern, ihren Wahrheit ſuchenden Schuͤlern, den edlen menſchen- freundlichen Seelen, die ſich ſo gern der Herrlichkeit des Allherrlichen in ſeinem Meiſterſtuͤcke freuen moͤchten — ſo ſchwer machen, in dem immer offnen, immer nahen — Antlitze des Men- ſchen zu leſen? des Menſchen, des Schoͤnſten aller ihrer Werke? des Menſchen, dieſes Jnnbe- griffs aller Dinge — dieſes Spiegels der Gottheit, dieſes Wiederſcheins von Himmel und Erde — des Menſchen, der uns in allen Abſichten das Wichtigſte — und in ſo mancher Abſicht unſer Bruder iſt? O! Menſch mit geſundem Verſtande, kannſt du ſolches glauben? dieſes der beſten, der O — erwache, die dir tauſendfach begegnende Menſchheit anzuſchauen! Du kannſt hier Fuͤhle das Beduͤrfniß ſichrer Menſchenkenntniß; und glaube, daß ein großer Theil die- Das große Geheimniß, ſich alles leicht zu machen, beſteht in der Analyſirung, (Zerglie- Welche
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0222" n="154"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XII.</hi><hi rendition="#g">Fragment. Von der Leichtigkeit</hi></hi></fw><lb/> befriedigen? Sie, die dem Menſchen noch wohl tiefere, und doch weniger brauchbare, der Geſell-<lb/> ſchaft viel gleichguͤltigere Geheimniſſe darbot, und ſeinem forſchenden Blick aufſchloß? — Sie,<lb/> die ihm Wege zeigte, die Bahn der Cometen auszuſpaͤhen und ihre Kruͤmmung zu meſſen? —<lb/> Sie, die dem Menſchen das Fernglas in die Haͤnde gab, die Trabanten der Planeten auszuſpuͤ-<lb/> ren, und Verſtand in ſeine Stirne, die Finſterniſſe derſelben auf Jahrhunderte zu berechnen? Dieſe<lb/> zaͤrtliche Mutter ſollt's ihren Kindern, ihren Wahrheit ſuchenden Schuͤlern, den edlen menſchen-<lb/> freundlichen Seelen, die ſich ſo gern der Herrlichkeit des Allherrlichen in ſeinem Meiſterſtuͤcke<lb/> freuen moͤchten — ſo ſchwer machen, in dem immer offnen, immer nahen — Antlitze des Men-<lb/> ſchen zu leſen? des Menſchen, des Schoͤnſten aller ihrer Werke? des Menſchen, dieſes Jnnbe-<lb/> griffs aller Dinge — dieſes Spiegels der Gottheit, dieſes Wiederſcheins von Himmel und Erde —<lb/> des Menſchen, der uns in allen Abſichten das Wichtigſte — und in ſo mancher Abſicht unſer<lb/> Bruder iſt?</p><lb/> <p>O! Menſch mit geſundem Verſtande, kannſt du ſolches glauben? dieſes der beſten, der<lb/> zaͤrtlichſten aller Muͤtter zutrauen? O Menſch — dir ſollt' alles leicht werden koͤnnen, was du ent-<lb/> behren kannſt; und nur das ſchwer bleiben, was dir am naͤchſten und wichtigſten iſt?</p><lb/> <p>O — erwache, die dir tauſendfach begegnende Menſchheit anzuſchauen! Du kannſt hier<lb/> unendlich vieles lernen! Entſchuͤtte dich deiner Traͤgheit! Komm und ſiehe! Du kannſt dir das<lb/> Schwerſte leicht machen, wenns dir <hi rendition="#fr">wichtig</hi> wird, und wenn du <hi rendition="#fr">Muth</hi> haſt.</p><lb/> <p>Fuͤhle das <hi rendition="#fr">Beduͤrfniß</hi> ſichrer Menſchenkenntniß; und <hi rendition="#fr">glaube,</hi> daß ein großer Theil die-<lb/> ſes Beduͤrfniſſes befriediget werden koͤnne — durch dieß doppelte Gefuͤhl wirſt du dir das Schwer-<lb/> ſte leicht machen.</p><lb/> <p>Das große Geheimniß, ſich alles leicht zu machen, beſteht in der Analyſirung, (Zerglie-<lb/> derung) der Dinge. Nimm Eins nach dem andern vor dich, und fange beym Leichteſten an —<lb/> am Ende wirſt du Wunder gethan haben! Die hoͤchſte Stufe, wenn ſie je erreicht werden kann,<lb/> kann's auf keine andere Weiſe, als wenn du erſt die unterſte, ſodann die zweyte und dritte zu be-<lb/> treten anfaͤngſt, und beſonders keine uͤberſpringen willſt.</p><lb/> <fw place="bottom" type="catch">Welche</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [154/0222]
XII. Fragment. Von der Leichtigkeit
befriedigen? Sie, die dem Menſchen noch wohl tiefere, und doch weniger brauchbare, der Geſell-
ſchaft viel gleichguͤltigere Geheimniſſe darbot, und ſeinem forſchenden Blick aufſchloß? — Sie,
die ihm Wege zeigte, die Bahn der Cometen auszuſpaͤhen und ihre Kruͤmmung zu meſſen? —
Sie, die dem Menſchen das Fernglas in die Haͤnde gab, die Trabanten der Planeten auszuſpuͤ-
ren, und Verſtand in ſeine Stirne, die Finſterniſſe derſelben auf Jahrhunderte zu berechnen? Dieſe
zaͤrtliche Mutter ſollt's ihren Kindern, ihren Wahrheit ſuchenden Schuͤlern, den edlen menſchen-
freundlichen Seelen, die ſich ſo gern der Herrlichkeit des Allherrlichen in ſeinem Meiſterſtuͤcke
freuen moͤchten — ſo ſchwer machen, in dem immer offnen, immer nahen — Antlitze des Men-
ſchen zu leſen? des Menſchen, des Schoͤnſten aller ihrer Werke? des Menſchen, dieſes Jnnbe-
griffs aller Dinge — dieſes Spiegels der Gottheit, dieſes Wiederſcheins von Himmel und Erde —
des Menſchen, der uns in allen Abſichten das Wichtigſte — und in ſo mancher Abſicht unſer
Bruder iſt?
O! Menſch mit geſundem Verſtande, kannſt du ſolches glauben? dieſes der beſten, der
zaͤrtlichſten aller Muͤtter zutrauen? O Menſch — dir ſollt' alles leicht werden koͤnnen, was du ent-
behren kannſt; und nur das ſchwer bleiben, was dir am naͤchſten und wichtigſten iſt?
O — erwache, die dir tauſendfach begegnende Menſchheit anzuſchauen! Du kannſt hier
unendlich vieles lernen! Entſchuͤtte dich deiner Traͤgheit! Komm und ſiehe! Du kannſt dir das
Schwerſte leicht machen, wenns dir wichtig wird, und wenn du Muth haſt.
Fuͤhle das Beduͤrfniß ſichrer Menſchenkenntniß; und glaube, daß ein großer Theil die-
ſes Beduͤrfniſſes befriediget werden koͤnne — durch dieß doppelte Gefuͤhl wirſt du dir das Schwer-
ſte leicht machen.
Das große Geheimniß, ſich alles leicht zu machen, beſteht in der Analyſirung, (Zerglie-
derung) der Dinge. Nimm Eins nach dem andern vor dich, und fange beym Leichteſten an —
am Ende wirſt du Wunder gethan haben! Die hoͤchſte Stufe, wenn ſie je erreicht werden kann,
kann's auf keine andere Weiſe, als wenn du erſt die unterſte, ſodann die zweyte und dritte zu be-
treten anfaͤngſt, und beſonders keine uͤberſpringen willſt.
Welche
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/222 |
Zitationshilfe: | Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/222>, abgerufen am 16.02.2025. |