Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

Bild:
<< vorherige Seite
XI. Fragment. Von einigen Schwierigkeiten
Eilftes Fragment.
Von einigen Schwierigkeiten bey der Physiognomik.

Dieß Fragment sollte wohl das weitläuftigste in meinem ganzen Werke, und dessen ungeachtet
wirds eines der kürzesten seyn. Kein ganzer Band, auch nicht der stärkste, würde hinrei-
chend seyn, alle die unzählichen Schwierigkeiten, womit die Pysiognomik umgeben ist, darzustellen
und zu entwickeln.

Alle die Einwendungen, die man dagegen macht (und man macht gewiß nicht alle, die ge-
macht werden könnten) sind, wenn sie auch noch so wenig Grund haben -- und wie viele sind doch
wirklich gegründet? immer wenigstens ein Beweis von dem allgemeinen Gefühle der Schwierig-
keit, womit diese Kenntniß und Erforschung der Natur umgeben zu seyn scheint.

Jch glaube nicht, daß alle Gegner der Physiognomik so viele Schwierigkeiten aufhäufen
können, als ein philosophischer Physiognomiste bald genug erfahren wird. Tausendmal bin ich
durch die Menge und Mannichfaltigkeit derselben bestürzt, und von allen weitern Erforschungen bey-
nahe zurückgeschreckt worden. Aber allemal ward ich durch das Gewisse, Feste, Zuverläßige, das
ich einmal gesammelt hatte, und das durch tausend Erfahrungen bestätigt, und durch keine einzige
Erfahrung umgestoßen ward, so weit aufgerichtet und gestärkt, daß ich wieder Muth faßte, mich
durch einen Theil der Schwierigkeiten durchzuschlagen, und wo ich mich nicht durchschlagen konn-
te, dieselben ruhig auf der Seite zu lassen, bis mir etwa ein Licht aufgehen, oder sich ein Verei-
nigungspunkt so mancher scheinbarer Widersprüche zeigen möchte.

Es ist überhaupt so eine eigne Sache mit den Schwierigkeiten! Eine eigne Gabe -- bey
allen, auch den leichtesten und flächsten Sachen Schwierigkeiten ohne Zahl und Schranken -- zu
sehen, zu erschaffen, oder zu erdichten! Jch könnte eine Menge Gesichter nach einander vorführen,
die diese Gabe in einem ausnehmenden Grade besitzen. Sie haben einen ganz eignen, ganz be-
stimmten Character. Uebrigens sind sie ganz treffliche Leute! Salz aller Gesellschaften -- aber
nicht Speise! -- Jch bewundere ihre Talente; aber verbäte mir ihre Freundschaft, wenns je

möglich
XI. Fragment. Von einigen Schwierigkeiten
Eilftes Fragment.
Von einigen Schwierigkeiten bey der Phyſiognomik.

Dieß Fragment ſollte wohl das weitlaͤuftigſte in meinem ganzen Werke, und deſſen ungeachtet
wirds eines der kuͤrzeſten ſeyn. Kein ganzer Band, auch nicht der ſtaͤrkſte, wuͤrde hinrei-
chend ſeyn, alle die unzaͤhlichen Schwierigkeiten, womit die Pyſiognomik umgeben iſt, darzuſtellen
und zu entwickeln.

Alle die Einwendungen, die man dagegen macht (und man macht gewiß nicht alle, die ge-
macht werden koͤnnten) ſind, wenn ſie auch noch ſo wenig Grund haben — und wie viele ſind doch
wirklich gegruͤndet? immer wenigſtens ein Beweis von dem allgemeinen Gefuͤhle der Schwierig-
keit, womit dieſe Kenntniß und Erforſchung der Natur umgeben zu ſeyn ſcheint.

Jch glaube nicht, daß alle Gegner der Phyſiognomik ſo viele Schwierigkeiten aufhaͤufen
koͤnnen, als ein philoſophiſcher Phyſiognomiſte bald genug erfahren wird. Tauſendmal bin ich
durch die Menge und Mannichfaltigkeit derſelben beſtuͤrzt, und von allen weitern Erforſchungen bey-
nahe zuruͤckgeſchreckt worden. Aber allemal ward ich durch das Gewiſſe, Feſte, Zuverlaͤßige, das
ich einmal geſammelt hatte, und das durch tauſend Erfahrungen beſtaͤtigt, und durch keine einzige
Erfahrung umgeſtoßen ward, ſo weit aufgerichtet und geſtaͤrkt, daß ich wieder Muth faßte, mich
durch einen Theil der Schwierigkeiten durchzuſchlagen, und wo ich mich nicht durchſchlagen konn-
te, dieſelben ruhig auf der Seite zu laſſen, bis mir etwa ein Licht aufgehen, oder ſich ein Verei-
nigungspunkt ſo mancher ſcheinbarer Widerſpruͤche zeigen moͤchte.

Es iſt uͤberhaupt ſo eine eigne Sache mit den Schwierigkeiten! Eine eigne Gabe — bey
allen, auch den leichteſten und flaͤchſten Sachen Schwierigkeiten ohne Zahl und Schranken — zu
ſehen, zu erſchaffen, oder zu erdichten! Jch koͤnnte eine Menge Geſichter nach einander vorfuͤhren,
die dieſe Gabe in einem ausnehmenden Grade beſitzen. Sie haben einen ganz eignen, ganz be-
ſtimmten Character. Uebrigens ſind ſie ganz treffliche Leute! Salz aller Geſellſchaften — aber
nicht Speiſe! — Jch bewundere ihre Talente; aber verbaͤte mir ihre Freundſchaft, wenns je

moͤglich
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0210" n="142"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#aq">XI.</hi> <hi rendition="#g">Fragment. Von einigen Schwierigkeiten</hi> </hi> </fw><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Eilftes Fragment</hi>.<lb/>
Von einigen Schwierigkeiten bey der Phy&#x017F;iognomik.</hi> </head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">D</hi>ieß Fragment &#x017F;ollte wohl das weitla&#x0364;uftig&#x017F;te in meinem ganzen Werke, und de&#x017F;&#x017F;en ungeachtet<lb/>
wirds eines der ku&#x0364;rze&#x017F;ten &#x017F;eyn. Kein ganzer Band, auch nicht der &#x017F;ta&#x0364;rk&#x017F;te, wu&#x0364;rde hinrei-<lb/>
chend &#x017F;eyn, alle die unza&#x0364;hlichen Schwierigkeiten, womit die Py&#x017F;iognomik umgeben i&#x017F;t, darzu&#x017F;tellen<lb/>
und zu entwickeln.</p><lb/>
          <p>Alle die Einwendungen, die man dagegen macht (und man macht gewiß nicht alle, die ge-<lb/>
macht werden ko&#x0364;nnten) &#x017F;ind, wenn &#x017F;ie auch noch &#x017F;o wenig Grund haben &#x2014; und wie viele &#x017F;ind doch<lb/>
wirklich gegru&#x0364;ndet? immer wenig&#x017F;tens ein Beweis von dem allgemeinen Gefu&#x0364;hle der Schwierig-<lb/>
keit, womit die&#x017F;e Kenntniß und Erfor&#x017F;chung der Natur umgeben zu &#x017F;eyn &#x017F;cheint.</p><lb/>
          <p>Jch glaube nicht, daß alle Gegner der Phy&#x017F;iognomik &#x017F;o viele Schwierigkeiten aufha&#x0364;ufen<lb/>
ko&#x0364;nnen, als ein philo&#x017F;ophi&#x017F;cher Phy&#x017F;iognomi&#x017F;te bald genug erfahren wird. Tau&#x017F;endmal bin ich<lb/>
durch die Menge und Mannichfaltigkeit der&#x017F;elben be&#x017F;tu&#x0364;rzt, und von allen weitern Erfor&#x017F;chungen bey-<lb/>
nahe zuru&#x0364;ckge&#x017F;chreckt worden. Aber allemal ward ich durch das Gewi&#x017F;&#x017F;e, Fe&#x017F;te, Zuverla&#x0364;ßige, das<lb/>
ich einmal ge&#x017F;ammelt hatte, und das durch tau&#x017F;end Erfahrungen be&#x017F;ta&#x0364;tigt, und durch keine einzige<lb/>
Erfahrung umge&#x017F;toßen ward, &#x017F;o weit aufgerichtet und ge&#x017F;ta&#x0364;rkt, daß ich wieder Muth faßte, mich<lb/>
durch einen Theil der Schwierigkeiten durchzu&#x017F;chlagen, und wo ich mich nicht durch&#x017F;chlagen konn-<lb/>
te, die&#x017F;elben ruhig auf der Seite zu la&#x017F;&#x017F;en, bis mir etwa ein Licht aufgehen, oder &#x017F;ich ein Verei-<lb/>
nigungspunkt &#x017F;o mancher &#x017F;cheinbarer Wider&#x017F;pru&#x0364;che zeigen mo&#x0364;chte.</p><lb/>
          <p>Es i&#x017F;t u&#x0364;berhaupt &#x017F;o eine eigne Sache mit den Schwierigkeiten! Eine eigne Gabe &#x2014; bey<lb/>
allen, auch den leichte&#x017F;ten und fla&#x0364;ch&#x017F;ten Sachen Schwierigkeiten ohne Zahl und Schranken &#x2014; zu<lb/>
&#x017F;ehen, zu er&#x017F;chaffen, oder zu erdichten! Jch ko&#x0364;nnte eine Menge Ge&#x017F;ichter nach einander vorfu&#x0364;hren,<lb/>
die die&#x017F;e Gabe in einem ausnehmenden Grade be&#x017F;itzen. Sie haben einen ganz eignen, ganz be-<lb/>
&#x017F;timmten Character. Uebrigens &#x017F;ind &#x017F;ie ganz treffliche Leute! Salz aller Ge&#x017F;ell&#x017F;chaften &#x2014; aber<lb/>
nicht Spei&#x017F;e! &#x2014; Jch bewundere ihre Talente; aber verba&#x0364;te mir ihre Freund&#x017F;chaft, wenns je<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">mo&#x0364;glich</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[142/0210] XI. Fragment. Von einigen Schwierigkeiten Eilftes Fragment. Von einigen Schwierigkeiten bey der Phyſiognomik. Dieß Fragment ſollte wohl das weitlaͤuftigſte in meinem ganzen Werke, und deſſen ungeachtet wirds eines der kuͤrzeſten ſeyn. Kein ganzer Band, auch nicht der ſtaͤrkſte, wuͤrde hinrei- chend ſeyn, alle die unzaͤhlichen Schwierigkeiten, womit die Pyſiognomik umgeben iſt, darzuſtellen und zu entwickeln. Alle die Einwendungen, die man dagegen macht (und man macht gewiß nicht alle, die ge- macht werden koͤnnten) ſind, wenn ſie auch noch ſo wenig Grund haben — und wie viele ſind doch wirklich gegruͤndet? immer wenigſtens ein Beweis von dem allgemeinen Gefuͤhle der Schwierig- keit, womit dieſe Kenntniß und Erforſchung der Natur umgeben zu ſeyn ſcheint. Jch glaube nicht, daß alle Gegner der Phyſiognomik ſo viele Schwierigkeiten aufhaͤufen koͤnnen, als ein philoſophiſcher Phyſiognomiſte bald genug erfahren wird. Tauſendmal bin ich durch die Menge und Mannichfaltigkeit derſelben beſtuͤrzt, und von allen weitern Erforſchungen bey- nahe zuruͤckgeſchreckt worden. Aber allemal ward ich durch das Gewiſſe, Feſte, Zuverlaͤßige, das ich einmal geſammelt hatte, und das durch tauſend Erfahrungen beſtaͤtigt, und durch keine einzige Erfahrung umgeſtoßen ward, ſo weit aufgerichtet und geſtaͤrkt, daß ich wieder Muth faßte, mich durch einen Theil der Schwierigkeiten durchzuſchlagen, und wo ich mich nicht durchſchlagen konn- te, dieſelben ruhig auf der Seite zu laſſen, bis mir etwa ein Licht aufgehen, oder ſich ein Verei- nigungspunkt ſo mancher ſcheinbarer Widerſpruͤche zeigen moͤchte. Es iſt uͤberhaupt ſo eine eigne Sache mit den Schwierigkeiten! Eine eigne Gabe — bey allen, auch den leichteſten und flaͤchſten Sachen Schwierigkeiten ohne Zahl und Schranken — zu ſehen, zu erſchaffen, oder zu erdichten! Jch koͤnnte eine Menge Geſichter nach einander vorfuͤhren, die dieſe Gabe in einem ausnehmenden Grade beſitzen. Sie haben einen ganz eignen, ganz be- ſtimmten Character. Uebrigens ſind ſie ganz treffliche Leute! Salz aller Geſellſchaften — aber nicht Speiſe! — Jch bewundere ihre Talente; aber verbaͤte mir ihre Freundſchaft, wenns je moͤglich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/210
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/210>, abgerufen am 21.11.2024.