Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.IX. Fragment. 10. Zugabe. Von der Harmonie "haben, den stärksten Antheil an der gefälligen Wirkung, die die äußere Form auf uns"thut; wir schätzen das an der äußern Gestalt, was uns in der innern Beschaffenheit "gefällt. Wir sehen in dem Körper die Seele, den Grad ihrer Stärke und Wirksam- "keit, und "Unter dem Licht der Augen und unter den Rosen der Wangen "Noch ehe sich der Mund öffnet, ehe ein Glied sich bewegt, sehen wir schon, ob eine "Hier können wir von der bloßen Möglichkeit der Sache auf ihre Wirklichkeit schlies- "Aus *) Die Sündfluth. II. Ges.
IX. Fragment. 10. Zugabe. Von der Harmonie „haben, den ſtaͤrkſten Antheil an der gefaͤlligen Wirkung, die die aͤußere Form auf uns„thut; wir ſchaͤtzen das an der aͤußern Geſtalt, was uns in der innern Beſchaffenheit „gefaͤllt. Wir ſehen in dem Koͤrper die Seele, den Grad ihrer Staͤrke und Wirkſam- „keit, und „Unter dem Licht der Augen und unter den Roſen der Wangen „Noch ehe ſich der Mund oͤffnet, ehe ein Glied ſich bewegt, ſehen wir ſchon, ob eine „Hier koͤnnen wir von der bloßen Moͤglichkeit der Sache auf ihre Wirklichkeit ſchlieſ- „Aus *) Die Suͤndfluth. II. Geſ.
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IX. Fragment. 10. Zugabe. Von der Harmonie
„haben, den ſtaͤrkſten Antheil an der gefaͤlligen Wirkung, die die aͤußere Form auf uns
„thut; wir ſchaͤtzen das an der aͤußern Geſtalt, was uns in der innern Beſchaffenheit
„gefaͤllt. Wir ſehen in dem Koͤrper die Seele, den Grad ihrer Staͤrke und Wirkſam-
„keit, und
„Unter dem Licht der Augen und unter den Roſen der Wangen
„Seh'n wir ein hoͤheres Licht, ein helleres Schoͤnes hervorgehn.“ *)
„Noch ehe ſich der Mund oͤffnet, ehe ein Glied ſich bewegt, ſehen wir ſchon, ob eine
„ſanftere oder lebhaftere Empfindung jenen oͤffnen, und dieſe bewegen wird. Jn der vollkom-
„menſten Ruhe aller Glieder, bemerken wir zum voraus, ob ſie ſich geſchwind oder langſam,
„mit Verſtand, oder ungeſchickt bewegen werden.“
„Hier koͤnnen wir von der bloßen Moͤglichkeit der Sache auf ihre Wirklichkeit ſchlieſ-
„ſen; weil ſie allen uͤbrigen wohlthaͤtigen Veranſtaltungen der Natur vollkommen gemaͤß iſt.
„Es war nothwendig, wenigſtens heilſam, dem Menſchen ein Mittel zu geben, Weſen ſeiner
„Art, mit denen er nothwendig in Verbindung kommen mußte, und die ſo ſehr kraͤftig auf
„ſeine Gluͤckſeligkeit wirken, ſchnell kennen zu lernen. Die Seelen der Menſchen ſind es, die
„unſer Gluͤck oder Ungluͤck machen, nicht ihre Koͤrper. Alſo mußten wir ein Mittel haben,
„dieſe ſchnell zu erkennen, zu lieben, oder zu ſcheuen. Schneller als durch das Anſchauen
„der ſichtbaren Geſtalt, konnte es nicht geſchehen. Da dieſes moͤglich war, warum ſollten
„wir laͤnger daran zweifeln, daß der Koͤrper nichts anders, als die ſichtbar gemachte Seele,
„der ganze ſichtbare Menſch ſey? Kann es einem verſtaͤndigen Menſchen zweifelhaft ſeyn,
„daß die Natur durch die hoͤchſtliebliche und einnehmende Geſtalt, die der Kindheit eigen
„iſt, Wohlwollen gegen dieſes huͤlf- und gunſtbeduͤrftige Alter habe erwecken wollen?
„Hat ſie nicht ſo gar in die ſichtbare Geſtalt der Thiere etwas gelegt, das den Verſtaͤndigen
„vor ihnen warnet, oder ſie ſuchen macht?“
„Aus
*) Die Suͤndfluth. II. Geſ.
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