Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.IX. Fragment. 4. Zugabe. Von der Harmonie tha! .... Ach! unter allen kein Blick des Mitleidens! der zurückgehaltenen übertäubtenSchaam! Kein Kampf mehr zwischen Tugend und Laster! Kein Zweifel: -- Thun wir recht oder unrecht? Keine Furcht: was wird erfolgen? Keine vielleicht mehr -- vielleicht der Heilige Gottes! Ueber das alles sind die eisernen Seelen weit weg! was kümmert sie dieß? Nicht einer schaut an den Leidenden empor, deß Anblick auch den ungerechten Richter, dessen Auge Grausamkeiten zu sehen vermuthlich, und zu gebieten gewiß gewohnt war, dennoch rühr- te; -- auch nicht gleichgültig einer! alle in Bewegung, und alle in Bewegung wider ihn! Aufwiegler alle des wankenden Pöbels. -- Wer ist fähig, sie würdig zu beschreiben, als jene Meisterhand des unsterblichen Dich- "Meine Seele bewegt sich in mir; mein bebendes Knie sinkt; "Schwermuth und Mitleid und Angst erschüttern meine Gebeine; "Wenn ich dieß alles in ernsten Betrachtungen überdenke. "Und ein Abscheu vor Menschen, ein Schauer vor denen, die Gott schuf, "Ueberfällt mich, so oft ich es denke, wie wenig ihr dieses "Bey Euch empfindet, wie niedrig ihr seyd, nur menschlich zu fühlen; "Wie ohnmächtig, die Religion und die Mordsucht zu sondern, "Und, wie pöbelhaft klein, die lichten Stralen der schönen "Und der liebenswürdigen Unschuld, nur dunkel zu sehen! "Doch was sorget die Unschuld, von Euch gesehen zu werden: "Gott sieht sie; der Himmel mit Gott! Sie wird nicht erzittern, "Wenn
IX. Fragment. 4. Zugabe. Von der Harmonie tha! .... Ach! unter allen kein Blick des Mitleidens! der zuruͤckgehaltenen uͤbertaͤubtenSchaam! Kein Kampf mehr zwiſchen Tugend und Laſter! Kein Zweifel: — Thun wir recht oder unrecht? Keine Furcht: was wird erfolgen? Keine vielleicht mehr — vielleicht der Heilige Gottes! Ueber das alles ſind die eiſernen Seelen weit weg! was kuͤmmert ſie dieß? Nicht einer ſchaut an den Leidenden empor, deß Anblick auch den ungerechten Richter, deſſen Auge Grauſamkeiten zu ſehen vermuthlich, und zu gebieten gewiß gewohnt war, dennoch ruͤhr- te; — auch nicht gleichguͤltig einer! alle in Bewegung, und alle in Bewegung wider ihn! Aufwiegler alle des wankenden Poͤbels. — Wer iſt faͤhig, ſie wuͤrdig zu beſchreiben, als jene Meiſterhand des unſterblichen Dich- „Meine Seele bewegt ſich in mir; mein bebendes Knie ſinkt; „Schwermuth und Mitleid und Angſt erſchuͤttern meine Gebeine; „Wenn ich dieß alles in ernſten Betrachtungen uͤberdenke. „Und ein Abſcheu vor Menſchen, ein Schauer vor denen, die Gott ſchuf, „Ueberfaͤllt mich, ſo oft ich es denke, wie wenig ihr dieſes „Bey Euch empfindet, wie niedrig ihr ſeyd, nur menſchlich zu fuͤhlen; „Wie ohnmaͤchtig, die Religion und die Mordſucht zu ſondern, „Und, wie poͤbelhaft klein, die lichten Stralen der ſchoͤnen „Und der liebenswuͤrdigen Unſchuld, nur dunkel zu ſehen! „Doch was ſorget die Unſchuld, von Euch geſehen zu werden: „Gott ſieht ſie; der Himmel mit Gott! Sie wird nicht erzittern, „Wenn
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IX. Fragment. 4. Zugabe. Von der Harmonie
tha! .... Ach! unter allen kein Blick des Mitleidens! der zuruͤckgehaltenen uͤbertaͤubten
Schaam! Kein Kampf mehr zwiſchen Tugend und Laſter! Kein Zweifel: — Thun wir
recht oder unrecht? Keine Furcht: was wird erfolgen? Keine vielleicht mehr — vielleicht
der Heilige Gottes! Ueber das alles ſind die eiſernen Seelen weit weg! was kuͤmmert ſie dieß?
Nicht einer ſchaut an den Leidenden empor, deß Anblick auch den ungerechten Richter, deſſen
Auge Grauſamkeiten zu ſehen vermuthlich, und zu gebieten gewiß gewohnt war, dennoch ruͤhr-
te; — auch nicht gleichguͤltig einer! alle in Bewegung, und alle in Bewegung wider ihn!
Aufwiegler alle des wankenden Poͤbels. —
Wer iſt faͤhig, ſie wuͤrdig zu beſchreiben, als jene Meiſterhand des unſterblichen Dich-
ters — deſſen Phariſaͤer und Sadducaͤer alle ſo verrucht da ſtehen wie Rembrands — aber frey-
lich immer mit weit mehr Staͤrke, mehr Wuͤrde, denn dieſe, wenn anders noch ein Schim-
mer, ein Schatten von Wuͤrde in eine Seele kommen kann, die fuͤr die goͤttlichſten Reden
und Thaten und fuͤr die unmenſchlichſten Martern des edelſten und beſten Menſchen kein Ge-
fuͤhl mehr zu haben faͤhig iſt. —
„Meine Seele bewegt ſich in mir; mein bebendes Knie ſinkt;
„Schwermuth und Mitleid und Angſt erſchuͤttern meine Gebeine;
„Wenn ich dieß alles in ernſten Betrachtungen uͤberdenke.
„Und ein Abſcheu vor Menſchen, ein Schauer vor denen, die Gott ſchuf,
„Ueberfaͤllt mich, ſo oft ich es denke, wie wenig ihr dieſes
„Bey Euch empfindet, wie niedrig ihr ſeyd, nur menſchlich zu fuͤhlen;
„Wie ohnmaͤchtig, die Religion und die Mordſucht zu ſondern,
„Und, wie poͤbelhaft klein, die lichten Stralen der ſchoͤnen
„Und der liebenswuͤrdigen Unſchuld, nur dunkel zu ſehen!
„Doch was ſorget die Unſchuld, von Euch geſehen zu werden:
„Gott ſieht ſie; der Himmel mit Gott! Sie wird nicht erzittern,
„Wenn
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Zitationshilfe: | Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/124>, abgerufen am 27.07.2024. |