Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.IX. Fragment. 2. Zugabe. Von der Harmonie men hatte -- der Stimme seines Gewissens auf! bringt's nicht denen zurück, die es nie wiederzurückgefordert hätten, die in die größte Verlegenheit kamen, daß er's ihnen zurückbrachte -- Nein! dieser wird sich aus Geiz, aber nicht deswegen erhängen, weil er den Gedanken -- sich so vergangen zu haben, nicht ertragen kann; Nicht, daß er nicht mehr Geld bekommen -- Nein, daß er unschuldiges Blut verrathen hatte! daß er sahe, daß über den gehofften Messias das Todesur- theil gefällt war -- -- Wehe dem Herzen, das in Judas Betragen nicht die schrecklichste Nieder- trächtigkeit, aber weh' auch dem, das nicht noch apostolische Größe darinn fühlt! Holbein zeigt uns nur den Verräther. Raphael würd' uns zugleich den Apostel gezeigt haben. Und nun noch ein paar Worte, lieber Leser, von dem allgemeinen Urtheil aller Menschen Was würdest du sagen, wenn man unter dieß Bild, ich will nicht sagen, den Namen Was würdest du sagen, wenn ich nun so über dieß Gesicht urtheilte? -- Weiter will ich Aber nun noch eine entsetzliche Frage: -- "Wenn der Mensch mit dieser Stirn, dieser Geizes
IX. Fragment. 2. Zugabe. Von der Harmonie men hatte — der Stimme ſeines Gewiſſens auf! bringt's nicht denen zuruͤck, die es nie wiederzuruͤckgefordert haͤtten, die in die groͤßte Verlegenheit kamen, daß er's ihnen zuruͤckbrachte — Nein! dieſer wird ſich aus Geiz, aber nicht deswegen erhaͤngen, weil er den Gedanken — ſich ſo vergangen zu haben, nicht ertragen kann; Nicht, daß er nicht mehr Geld bekommen — Nein, daß er unſchuldiges Blut verrathen hatte! daß er ſahe, daß uͤber den gehofften Meſſias das Todesur- theil gefaͤllt war — — Wehe dem Herzen, das in Judas Betragen nicht die ſchrecklichſte Nieder- traͤchtigkeit, aber weh' auch dem, das nicht noch apoſtoliſche Groͤße darinn fuͤhlt! Holbein zeigt uns nur den Verraͤther. Raphael wuͤrd' uns zugleich den Apoſtel gezeigt haben. Und nun noch ein paar Worte, lieber Leſer, von dem allgemeinen Urtheil aller Menſchen Was wuͤrdeſt du ſagen, wenn man unter dieß Bild, ich will nicht ſagen, den Namen Was wuͤrdeſt du ſagen, wenn ich nun ſo uͤber dieß Geſicht urtheilte? — Weiter will ich Aber nun noch eine entſetzliche Frage: — „Wenn der Menſch mit dieſer Stirn, dieſer Geizes
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IX. Fragment. 2. Zugabe. Von der Harmonie
men hatte — der Stimme ſeines Gewiſſens auf! bringt's nicht denen zuruͤck, die es nie wieder
zuruͤckgefordert haͤtten, die in die groͤßte Verlegenheit kamen, daß er's ihnen zuruͤckbrachte —
Nein! dieſer wird ſich aus Geiz, aber nicht deswegen erhaͤngen, weil er den Gedanken — ſich ſo
vergangen zu haben, nicht ertragen kann; Nicht, daß er nicht mehr Geld bekommen — Nein, daß
er unſchuldiges Blut verrathen hatte! daß er ſahe, daß uͤber den gehofften Meſſias das Todesur-
theil gefaͤllt war — — Wehe dem Herzen, das in Judas Betragen nicht die ſchrecklichſte Nieder-
traͤchtigkeit, aber weh' auch dem, das nicht noch apoſtoliſche Groͤße darinn fuͤhlt! Holbein zeigt
uns nur den Verraͤther. Raphael wuͤrd' uns zugleich den Apoſtel gezeigt haben.
Und nun noch ein paar Worte, lieber Leſer, von dem allgemeinen Urtheil aller Menſchen
uͤber die Phyſiognomie, die wir vor uns haben! — und damit abermal ein Beweis, wie wahr die
Phyſiognomie ſey! abermal ein Beweis von der Harmonie moraliſcher und koͤrperlicher Schoͤnheit!
Was wuͤrdeſt du ſagen, wenn man unter dieß Bild, ich will nicht ſagen, den Namen
Chriſtus, ſondern — Petrus, Paulus, Johannes — ſchreiben wuͤrde? wie wuͤrde dir des
Mahlers Seele vorkommen, deſſen Apoſtelsideal ſo ein Geſicht waͤr'! Kaͤm's dir nicht laͤcherlich
vor, wenn ich dies Geſicht alſo commentiren wollte: „Schau! welch ein offenes, edles, großmuͤ-
„thiges Herz! Hat die Stirn nicht das entſcheidende Gepraͤge von einer reinen ſich mittheilenden
„Seele, die ihr Gluͤck in dem Gluͤck anderer ſucht! welch ein offenes, menſchenfreundliches Aug'!
„welch eine maͤnnliche hohe Augenbraune! Jſt nicht dieſe Naſe die Naſe eines Erhabenen! wer er-
„blickt nicht in der Mittellinie der Lefze, eine liebliche Guͤte, die nur bey unmittelbaren Schuͤlern
„Jeſus zu ſuchen iſt! Stellung, Bart, Haare, alles iſt edel, gefaͤllig — alles ſpricht von
„Groͤße und Wuͤrde des Characters.“
Was wuͤrdeſt du ſagen, wenn ich nun ſo uͤber dieß Geſicht urtheilte? — Weiter will ich
nun nichts ſagen. Haſt du Augen zu ſehen, ſo wirſt du ſehen. Haſt du keine, ſo kann dir mein
Wink keine geben.
Aber nun noch eine entſetzliche Frage: — „Wenn der Menſch mit dieſer Stirn, dieſer
„Bildung geboren wird, ſo waͤre ihm ja beſſer, daß er nie geboren waͤre?“ — „und daß er ſo gebo-
„ren wird, iſt es ſeine Schuld?“ — Nein, mein Freund! Er iſt nicht ſeine Schuld, wenn er ſo ge-
boren wuͤrde; aber er wird nicht ſo geboren — Dieſe Falten der Stirn, dieſer Blick des rechnenden
Geizes
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Zitationshilfe: | Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/112>, abgerufen am 16.02.2025. |