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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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der moralischen und körperlichen Schönheit.
vieles zum vollen Ausdruck der Falschheit, und schmeichelnden Schlauigkeit, so ists doch für die
gute Seite und die großen Anlagen dieses apostolischen Mannes lange nicht gut genug.

Holbeins Judas ist ein Dieb, der tief in der Seele darüber zürnet, daß von den hundert
Pfennigen ihm nichts wird, die die Salbe, am Herrn verschwendet, werth seyn mag. Er
ist fähig, den besten Menschen, seinen ergrimmtesten Feinden, um einen geringen Preis feil
zu bieten. Er lauert auf die Tritte der wohlthätigen Unschuld; er forscht mit schlauer Un-
ruhe das Vorhaben seines Meisters aus. Er frägt mit einer unbeschreiblichen Kälte: Bin ichs?
Er bleibt ungerührt, scheint's wenigstens bey der treffendsten Warnung, die je in zehn oder
zwölf Worten gegeben worden. Er geht, vom Satan besessen, sich an die Spitze der Verfolger
seines Herrn zu stellen -- giebt den verfluchtesten Kuß -- aller dieser Niederträchtigkeiten ist der
Mann fähig, der bey den letzten herzdurchdringendsten Reden des göttlichsten Menschen so gefühl-
los da liegt, und mit dieser Stirn, diesem Blicke, dieser Lippe dem Herrn ins Angesicht schaut; --
aber dieser Stirn, der so manche Niederträchtigkeit möglich ist -- Es ist ihr nicht möglich,
sich so schnell und so hoch wieder zu erheben, und dem tausendfachen Strome zermalmender Ge-
danken mit dieser edlen Kraft entgegen zu arbeiten -- Judas hat gehandelt wie ein Satan,
aber wie ein Satan, der Anlage hatte, ein Apostel zu seyn.

Jn dem Holbeinischen Gesichte sind wenig Spuren von der mir noch immer ehrwürdigen
Größe seiner Seele -- Nichts von der furchtbaren Elasticität, die in dem einen Augenblicke an
die Pforten der Hölle, in dem andern über die Wolken treibt. Eine abgehärtete, verjährte
Bosheit, die sich von Abgrund zu Abgrund fortgewälzt hat: Ein Geiz, der jedes Menschen Em-
pfindung gelassen Hohn spricht, das ists, was uns vornehmlich in diesem Gesicht aufstößt: aber
wenige Stunden nach der schrecklichsten That geht dieser Judas nicht hin die ernsthaftesten Ueber-
legungen über sein Herz und sein Betragen zu machen! dieser schaut nicht mit nagender Sorgsam-
keit: "Wie gehts meinem Herrn! wie der Unschuld, die ich verrathen habe?" umher! Er zittert
nicht in allen Grundfesten seiner Natur bey dem Gedanken: "dießmal entgeht er seinen Feinden
"nicht wie mehrmals! Es ist, ist's möglich, o weh mir! es ist um ihn geschehen!" -- Dieser eilt
nicht hin, der noch lebenden Unschuld gegen die Stimmen vieler tausend, das entscheidendste Zeugniß
zu geben! opfert nicht sein liebstes, vermuthlich die größte Summe, die er in seinem Leben beysam-

men
Phys. Fragm. I. Versuch. M

der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
vieles zum vollen Ausdruck der Falſchheit, und ſchmeichelnden Schlauigkeit, ſo iſts doch fuͤr die
gute Seite und die großen Anlagen dieſes apoſtoliſchen Mannes lange nicht gut genug.

Holbeins Judas iſt ein Dieb, der tief in der Seele daruͤber zuͤrnet, daß von den hundert
Pfennigen ihm nichts wird, die die Salbe, am Herrn verſchwendet, werth ſeyn mag. Er
iſt faͤhig, den beſten Menſchen, ſeinen ergrimmteſten Feinden, um einen geringen Preis feil
zu bieten. Er lauert auf die Tritte der wohlthaͤtigen Unſchuld; er forſcht mit ſchlauer Un-
ruhe das Vorhaben ſeines Meiſters aus. Er fraͤgt mit einer unbeſchreiblichen Kaͤlte: Bin ichs?
Er bleibt ungeruͤhrt, ſcheint's wenigſtens bey der treffendſten Warnung, die je in zehn oder
zwoͤlf Worten gegeben worden. Er geht, vom Satan beſeſſen, ſich an die Spitze der Verfolger
ſeines Herrn zu ſtellen — giebt den verfluchteſten Kuß — aller dieſer Niedertraͤchtigkeiten iſt der
Mann faͤhig, der bey den letzten herzdurchdringendſten Reden des goͤttlichſten Menſchen ſo gefuͤhl-
los da liegt, und mit dieſer Stirn, dieſem Blicke, dieſer Lippe dem Herrn ins Angeſicht ſchaut; —
aber dieſer Stirn, der ſo manche Niedertraͤchtigkeit moͤglich iſt — Es iſt ihr nicht moͤglich,
ſich ſo ſchnell und ſo hoch wieder zu erheben, und dem tauſendfachen Strome zermalmender Ge-
danken mit dieſer edlen Kraft entgegen zu arbeiten — Judas hat gehandelt wie ein Satan,
aber wie ein Satan, der Anlage hatte, ein Apoſtel zu ſeyn.

Jn dem Holbeiniſchen Geſichte ſind wenig Spuren von der mir noch immer ehrwuͤrdigen
Groͤße ſeiner Seele — Nichts von der furchtbaren Elaſticitaͤt, die in dem einen Augenblicke an
die Pforten der Hoͤlle, in dem andern uͤber die Wolken treibt. Eine abgehaͤrtete, verjaͤhrte
Bosheit, die ſich von Abgrund zu Abgrund fortgewaͤlzt hat: Ein Geiz, der jedes Menſchen Em-
pfindung gelaſſen Hohn ſpricht, das iſts, was uns vornehmlich in dieſem Geſicht aufſtoͤßt: aber
wenige Stunden nach der ſchrecklichſten That geht dieſer Judas nicht hin die ernſthafteſten Ueber-
legungen uͤber ſein Herz und ſein Betragen zu machen! dieſer ſchaut nicht mit nagender Sorgſam-
keit: „Wie gehts meinem Herrn! wie der Unſchuld, die ich verrathen habe?“ umher! Er zittert
nicht in allen Grundfeſten ſeiner Natur bey dem Gedanken: „dießmal entgeht er ſeinen Feinden
„nicht wie mehrmals! Es iſt, iſt's moͤglich, o weh mir! es iſt um ihn geſchehen!“ — Dieſer eilt
nicht hin, der noch lebenden Unſchuld gegen die Stimmen vieler tauſend, das entſcheidendſte Zeugniß
zu geben! opfert nicht ſein liebſtes, vermuthlich die groͤßte Summe, die er in ſeinem Leben beyſam-

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Phyſ. Fragm. I. Verſuch. M
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[81/0111] der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit. vieles zum vollen Ausdruck der Falſchheit, und ſchmeichelnden Schlauigkeit, ſo iſts doch fuͤr die gute Seite und die großen Anlagen dieſes apoſtoliſchen Mannes lange nicht gut genug. Holbeins Judas iſt ein Dieb, der tief in der Seele daruͤber zuͤrnet, daß von den hundert Pfennigen ihm nichts wird, die die Salbe, am Herrn verſchwendet, werth ſeyn mag. Er iſt faͤhig, den beſten Menſchen, ſeinen ergrimmteſten Feinden, um einen geringen Preis feil zu bieten. Er lauert auf die Tritte der wohlthaͤtigen Unſchuld; er forſcht mit ſchlauer Un- ruhe das Vorhaben ſeines Meiſters aus. Er fraͤgt mit einer unbeſchreiblichen Kaͤlte: Bin ichs? Er bleibt ungeruͤhrt, ſcheint's wenigſtens bey der treffendſten Warnung, die je in zehn oder zwoͤlf Worten gegeben worden. Er geht, vom Satan beſeſſen, ſich an die Spitze der Verfolger ſeines Herrn zu ſtellen — giebt den verfluchteſten Kuß — aller dieſer Niedertraͤchtigkeiten iſt der Mann faͤhig, der bey den letzten herzdurchdringendſten Reden des goͤttlichſten Menſchen ſo gefuͤhl- los da liegt, und mit dieſer Stirn, dieſem Blicke, dieſer Lippe dem Herrn ins Angeſicht ſchaut; — aber dieſer Stirn, der ſo manche Niedertraͤchtigkeit moͤglich iſt — Es iſt ihr nicht moͤglich, ſich ſo ſchnell und ſo hoch wieder zu erheben, und dem tauſendfachen Strome zermalmender Ge- danken mit dieſer edlen Kraft entgegen zu arbeiten — Judas hat gehandelt wie ein Satan, aber wie ein Satan, der Anlage hatte, ein Apoſtel zu ſeyn. Jn dem Holbeiniſchen Geſichte ſind wenig Spuren von der mir noch immer ehrwuͤrdigen Groͤße ſeiner Seele — Nichts von der furchtbaren Elaſticitaͤt, die in dem einen Augenblicke an die Pforten der Hoͤlle, in dem andern uͤber die Wolken treibt. Eine abgehaͤrtete, verjaͤhrte Bosheit, die ſich von Abgrund zu Abgrund fortgewaͤlzt hat: Ein Geiz, der jedes Menſchen Em- pfindung gelaſſen Hohn ſpricht, das iſts, was uns vornehmlich in dieſem Geſicht aufſtoͤßt: aber wenige Stunden nach der ſchrecklichſten That geht dieſer Judas nicht hin die ernſthafteſten Ueber- legungen uͤber ſein Herz und ſein Betragen zu machen! dieſer ſchaut nicht mit nagender Sorgſam- keit: „Wie gehts meinem Herrn! wie der Unſchuld, die ich verrathen habe?“ umher! Er zittert nicht in allen Grundfeſten ſeiner Natur bey dem Gedanken: „dießmal entgeht er ſeinen Feinden „nicht wie mehrmals! Es iſt, iſt's moͤglich, o weh mir! es iſt um ihn geſchehen!“ — Dieſer eilt nicht hin, der noch lebenden Unſchuld gegen die Stimmen vieler tauſend, das entſcheidendſte Zeugniß zu geben! opfert nicht ſein liebſtes, vermuthlich die groͤßte Summe, die er in ſeinem Leben beyſam- men Phyſ. Fragm. I. Verſuch. M

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/111>, abgerufen am 12.05.2024.