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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

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Matthäus VII.
Werth unserer Handlungen. Selbst die größten
Wunderkräfte an sich betrachtet haben blos den Werth
aller andern Talente. Sie sind Geistesgaben -- die
an sich so wenig ein Recht zur christlichen Seeligkeit ge-
ben, als das Talent der Musik, der Dichtkunst, der
Malerey an sich einen zum Bürger des Himmels machen
kann. -- Judas Ischariot z. E. hatte gewiß, da er
einmal mit den Zwölfen vom Herrn ausgesandt ward,
so gut wie die Uebrigen Kraft empfangen, Kranke im
Namen Jesu gesund zu machen. Nicht nur gab ihm das an
sich kein Recht zur apostolischen Seeligkeit; Sondern es
mußte natürlicher und nothwendiger Weise seine Verzwei-
flung und Verdammniß nur noch schrecklicher und unbe-
gränzter machen. Liebe, Wohlwollen -- Sinn Christi ist
das einzige, was allen unsern Kräften und der Anwendung
derselben einen ewig geltenden Werth giebt. Es giebt
einen gewissen einseitigen Glauben an Christus, der
gewisse ausserordentliche Wirkungen hat, gewisse tiefe
Kräfte der menschlichen Natur in Bewegung setzen und
das Erstaunen der Welt seyn kann; Wofern die Liebe,
Eigensuchtfreyes Wohlwollen diese Kräfte nicht, wie
ein Steuerruder das Schif lenkt -- so hat dieser Glaube
keine andere Wirkung, als tiefere Verdammniß der Per-
son, die ihn besitzt. Wer im Glauben an Christum nur
seine Kraft nachahmen will; Nicht seine Liebe, der ist in
grosser Gefahr, sich auf die schrecklichste Weise zu täu-
schen. Wer vorzügliche Kraft besitzt, und mit dieser
mehr auf andere als auf sich selbst zur Verbesserung
seines eignen Herzens wirkt, der wird höchst wahrschein-

lich

Matthäus VII.
Werth unſerer Handlungen. Selbſt die größten
Wunderkräfte an ſich betrachtet haben blos den Werth
aller andern Talente. Sie ſind Geiſtesgaben — die
an ſich ſo wenig ein Recht zur chriſtlichen Seeligkeit ge-
ben, als das Talent der Muſik, der Dichtkunſt, der
Malerey an ſich einen zum Bürger des Himmels machen
kann. — Judas Iſchariot z. E. hatte gewiß, da er
einmal mit den Zwölfen vom Herrn ausgeſandt ward,
ſo gut wie die Uebrigen Kraft empfangen, Kranke im
Namen Jeſu geſund zu machen. Nicht nur gab ihm das an
ſich kein Recht zur apoſtoliſchen Seeligkeit; Sondern es
mußte natürlicher und nothwendiger Weiſe ſeine Verzwei-
flung und Verdammniß nur noch ſchrecklicher und unbe-
gränzter machen. Liebe, Wohlwollen — Sinn Chriſti iſt
das einzige, was allen unſern Kräften und der Anwendung
derſelben einen ewig geltenden Werth giebt. Es giebt
einen gewiſſen einſeitigen Glauben an Chriſtus, der
gewiſſe auſſerordentliche Wirkungen hat, gewiſſe tiefe
Kräfte der menſchlichen Natur in Bewegung ſetzen und
das Erſtaunen der Welt ſeyn kann; Wofern die Liebe,
Eigenſuchtfreyes Wohlwollen dieſe Kräfte nicht, wie
ein Steuerruder das Schif lenkt — ſo hat dieſer Glaube
keine andere Wirkung, als tiefere Verdammniß der Per-
ſon, die ihn beſitzt. Wer im Glauben an Chriſtum nur
ſeine Kraft nachahmen will; Nicht ſeine Liebe, der iſt in
groſſer Gefahr, ſich auf die ſchrecklichſte Weiſe zu täu-
ſchen. Wer vorzügliche Kraft beſitzt, und mit dieſer
mehr auf andere als auf ſich ſelbſt zur Verbeſſerung
ſeines eignen Herzens wirkt, der wird höchſt wahrſchein-

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[62[82]/0090] Matthäus VII. Werth unſerer Handlungen. Selbſt die größten Wunderkräfte an ſich betrachtet haben blos den Werth aller andern Talente. Sie ſind Geiſtesgaben — die an ſich ſo wenig ein Recht zur chriſtlichen Seeligkeit ge- ben, als das Talent der Muſik, der Dichtkunſt, der Malerey an ſich einen zum Bürger des Himmels machen kann. — Judas Iſchariot z. E. hatte gewiß, da er einmal mit den Zwölfen vom Herrn ausgeſandt ward, ſo gut wie die Uebrigen Kraft empfangen, Kranke im Namen Jeſu geſund zu machen. Nicht nur gab ihm das an ſich kein Recht zur apoſtoliſchen Seeligkeit; Sondern es mußte natürlicher und nothwendiger Weiſe ſeine Verzwei- flung und Verdammniß nur noch ſchrecklicher und unbe- gränzter machen. Liebe, Wohlwollen — Sinn Chriſti iſt das einzige, was allen unſern Kräften und der Anwendung derſelben einen ewig geltenden Werth giebt. Es giebt einen gewiſſen einſeitigen Glauben an Chriſtus, der gewiſſe auſſerordentliche Wirkungen hat, gewiſſe tiefe Kräfte der menſchlichen Natur in Bewegung ſetzen und das Erſtaunen der Welt ſeyn kann; Wofern die Liebe, Eigenſuchtfreyes Wohlwollen dieſe Kräfte nicht, wie ein Steuerruder das Schif lenkt — ſo hat dieſer Glaube keine andere Wirkung, als tiefere Verdammniß der Per- ſon, die ihn beſitzt. Wer im Glauben an Chriſtum nur ſeine Kraft nachahmen will; Nicht ſeine Liebe, der iſt in groſſer Gefahr, ſich auf die ſchrecklichſte Weiſe zu täu- ſchen. Wer vorzügliche Kraft beſitzt, und mit dieſer mehr auf andere als auf ſich ſelbſt zur Verbeſſerung ſeines eignen Herzens wirkt, der wird höchſt wahrſchein- lich

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 62[82]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/90>, abgerufen am 04.09.2024.