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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

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Matthäus XXVII.
der der Sünde nah' ist, auf alle Weise. Wohl dem,
der Gottes Stimme in jeder Warnung vor einer Mis-
sethat erkennt. Pilatus erkannte sie nicht -- doch hätt'
es ihm wichtig seyn sollen, daß ein ungewöhnlicher Traum
eben dahin entscheidet, wohin sein eignes sittliches Ge-
fühl, das Gewissen ihn lenkt. Zween solche Zeugen --
hätten ihn überzeugen und ihm mehr Muth geben sol-
len -- Auch als Heyde hätt' er, wie's uns vorkommt,
denken können und sollen: "Der Himmel intereßirt sich
&q;für den Mann, der hier vor mir steht. Mein Ge-
&q;wissen sagt mir -- ohne Wort, was mir die Götter durch
&q;meine Gemahlinn ausdrücklich sagen lassen. -- Alles,
&q;alles spricht für die Unschuld des Verklagten." --

Aber -- wie laut diese Wahrheit reden mogte; --
tausendmahl lauter rief die Stimme einer von der Prie-
sterschaft irregeführten Nation --

Wenn Gott uns warnt, liebe Leser, laßt uns im
stillen Gottes Warnung hören -- nicht mit dem eben
gewarnten Herzen in den Tumult der Versuchungen
eilen. Wäre Pilatus zu seiner Gemahlinn hingegan-
gen -- hätt' er sie ruhig und ernstlich gefragt: "Was
&q;ist an der Sache? Was sahest, was hörtest du? Wie
&q;kam es dir vor?" Hätt' er sich den Traum umständlich
erzählen lassen -- welchen Eindruck würde die ernste
Hergangenheit der Sache, und die rührende Erzählung
seiner gerührten Gattin auf sein Gemüthe gemacht ha-
ben müssen! -- Aber, er nahm sich nicht Zeit, zu hö-
ren, zu untersuchen; Er gieng nicht in die Stille -- Er

blieb

Matthäus XXVII.
der der Sünde nah’ iſt, auf alle Weiſe. Wohl dem,
der Gottes Stimme in jeder Warnung vor einer Miſ-
ſethat erkennt. Pilatus erkannte ſie nicht — doch hätt’
es ihm wichtig ſeyn ſollen, daß ein ungewöhnlicher Traum
eben dahin entſcheidet, wohin ſein eignes ſittliches Ge-
fühl, das Gewiſſen ihn lenkt. Zween ſolche Zeugen —
hätten ihn überzeugen und ihm mehr Muth geben ſol-
len — Auch als Heyde hätt’ er, wie’s uns vorkommt,
denken können und ſollen: „Der Himmel intereßirt ſich
&q;für den Mann, der hier vor mir ſteht. Mein Ge-
&q;wiſſen ſagt mir — ohne Wort, was mir die Götter durch
&q;meine Gemahlinn ausdrücklich ſagen laſſen. — Alles,
&q;alles ſpricht für die Unſchuld des Verklagten.“ —

Aber — wie laut dieſe Wahrheit reden mogte; —
tauſendmahl lauter rief die Stimme einer von der Prie-
ſterſchaft irregeführten Nation —

Wenn Gott uns warnt, liebe Leſer, laßt uns im
ſtillen Gottes Warnung hören — nicht mit dem eben
gewarnten Herzen in den Tumult der Verſuchungen
eilen. Wäre Pilatus zu ſeiner Gemahlinn hingegan-
gen — hätt’ er ſie ruhig und ernſtlich gefragt: „Was
&q;iſt an der Sache? Was ſaheſt, was hörteſt du? Wie
&q;kam es dir vor?“ Hätt’ er ſich den Traum umſtändlich
erzählen laſſen — welchen Eindruck würde die ernſte
Hergangenheit der Sache, und die rührende Erzählung
ſeiner gerührten Gattin auf ſein Gemüthe gemacht ha-
ben müſſen! — Aber, er nahm ſich nicht Zeit, zu hö-
ren, zu unterſuchen; Er gieng nicht in die Stille — Er

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[510[530]/0538] Matthäus XXVII. der der Sünde nah’ iſt, auf alle Weiſe. Wohl dem, der Gottes Stimme in jeder Warnung vor einer Miſ- ſethat erkennt. Pilatus erkannte ſie nicht — doch hätt’ es ihm wichtig ſeyn ſollen, daß ein ungewöhnlicher Traum eben dahin entſcheidet, wohin ſein eignes ſittliches Ge- fühl, das Gewiſſen ihn lenkt. Zween ſolche Zeugen — hätten ihn überzeugen und ihm mehr Muth geben ſol- len — Auch als Heyde hätt’ er, wie’s uns vorkommt, denken können und ſollen: „Der Himmel intereßirt ſich &q;für den Mann, der hier vor mir ſteht. Mein Ge- &q;wiſſen ſagt mir — ohne Wort, was mir die Götter durch &q;meine Gemahlinn ausdrücklich ſagen laſſen. — Alles, &q;alles ſpricht für die Unſchuld des Verklagten.“ — Aber — wie laut dieſe Wahrheit reden mogte; — tauſendmahl lauter rief die Stimme einer von der Prie- ſterſchaft irregeführten Nation — Wenn Gott uns warnt, liebe Leſer, laßt uns im ſtillen Gottes Warnung hören — nicht mit dem eben gewarnten Herzen in den Tumult der Verſuchungen eilen. Wäre Pilatus zu ſeiner Gemahlinn hingegan- gen — hätt’ er ſie ruhig und ernſtlich gefragt: „Was &q;iſt an der Sache? Was ſaheſt, was hörteſt du? Wie &q;kam es dir vor?“ Hätt’ er ſich den Traum umſtändlich erzählen laſſen — welchen Eindruck würde die ernſte Hergangenheit der Sache, und die rührende Erzählung ſeiner gerührten Gattin auf ſein Gemüthe gemacht ha- ben müſſen! — Aber, er nahm ſich nicht Zeit, zu hö- ren, zu unterſuchen; Er gieng nicht in die Stille — Er blieb

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 510[530]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/538>, abgerufen am 24.11.2024.