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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

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Jesus und Barrabas.
trügliche Zeichen der Unverbesserlichkeit, wenn Jesus
neben Barrabas verurtheilt, Barrabas neben Jesus
losgesprochen wird -- Vergessenheit der Pflichten, der
Tugenden, der Wahrheit, der Unschuld ist schon schlimm
genug; Tugend und Laster, Wahrheit und Lüge,
einen Freund und einen Feind des menschlichen Ge-
schlechtes in eine Linie stellen, die Wahl von beyden frey
lassen, ist noch zwanzig- oder hundertmahl schlimmer
-- aber das Schlimmste, das, worüber sich nichts
schlimmeres denken läßt, ist -- die neben das Laster
gestellte Tugend verdammen; Das neben die Tugend ge-
stellte Laster freysprechen. Das geschah auf die schänd-
lichstmöglichste Weise auf und vor Gabbatha -- ge-
schiehet aber, welches ich wohl zu merken bitte, täglich
bey jeder Sünde, wie sie immer Namen haben mag --
Was ist Sünde? -- Schlimmes dem Guten, Lüge der
Wahrheit, Tod dem Leben, Momente Jahrhunderten --
ein viehisches Vergnügen einem göttlichen und himmli-
schen vorziehen; Das wählen, dessen Wahl früh oder
späte gereuen wird; Das verwerfen, dessen Verwer-
fung früh' oder späte das Herz zerschneiden wird. Wer
einen schlechten Menschen einem guten, einen lügen-
haften einem Wahrheitliebenden, einen Gottlosen einem
Gottseeligen, einen Christusfeind einem Christusfreun-
de vorzieht -- Er steht vor Gabbatha, und ruft mit
dem Pöbel Israels -- Nicht Jesum, sondern den
Barrabas laß uns ledig.

Aber was wir ja hier nicht übergehen sollen, ist
das Weib des Pilatus -- Gott warnet -- warnet den,

der

Jeſus und Barrabas.
trügliche Zeichen der Unverbeſſerlichkeit, wenn Jeſus
neben Barrabas verurtheilt, Barrabas neben Jeſus
losgeſprochen wird — Vergeſſenheit der Pflichten, der
Tugenden, der Wahrheit, der Unſchuld iſt ſchon ſchlimm
genug; Tugend und Laſter, Wahrheit und Lüge,
einen Freund und einen Feind des menſchlichen Ge-
ſchlechtes in eine Linie ſtellen, die Wahl von beyden frey
laſſen, iſt noch zwanzig- oder hundertmahl ſchlimmer
— aber das Schlimmſte, das, worüber ſich nichts
ſchlimmeres denken läßt, iſt — die neben das Laſter
geſtellte Tugend verdammen; Das neben die Tugend ge-
ſtellte Laſter freyſprechen. Das geſchah auf die ſchänd-
lichſtmöglichſte Weiſe auf und vor Gabbatha — ge-
ſchiehet aber, welches ich wohl zu merken bitte, täglich
bey jeder Sünde, wie ſie immer Namen haben mag —
Was iſt Sünde? — Schlimmes dem Guten, Lüge der
Wahrheit, Tod dem Leben, Momente Jahrhunderten —
ein viehiſches Vergnügen einem göttlichen und himmli-
ſchen vorziehen; Das wählen, deſſen Wahl früh oder
ſpäte gereuen wird; Das verwerfen, deſſen Verwer-
fung früh’ oder ſpäte das Herz zerſchneiden wird. Wer
einen ſchlechten Menſchen einem guten, einen lügen-
haften einem Wahrheitliebenden, einen Gottloſen einem
Gottſeeligen, einen Chriſtusfeind einem Chriſtusfreun-
de vorzieht — Er ſteht vor Gabbatha, und ruft mit
dem Pöbel Iſraels — Nicht Jeſum, ſondern den
Barrabas laß uns ledig.

Aber was wir ja hier nicht übergehen ſollen, iſt
das Weib des Pilatus — Gott warnet — warnet den,

der
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[509[529]/0537] Jeſus und Barrabas. trügliche Zeichen der Unverbeſſerlichkeit, wenn Jeſus neben Barrabas verurtheilt, Barrabas neben Jeſus losgeſprochen wird — Vergeſſenheit der Pflichten, der Tugenden, der Wahrheit, der Unſchuld iſt ſchon ſchlimm genug; Tugend und Laſter, Wahrheit und Lüge, einen Freund und einen Feind des menſchlichen Ge- ſchlechtes in eine Linie ſtellen, die Wahl von beyden frey laſſen, iſt noch zwanzig- oder hundertmahl ſchlimmer — aber das Schlimmſte, das, worüber ſich nichts ſchlimmeres denken läßt, iſt — die neben das Laſter geſtellte Tugend verdammen; Das neben die Tugend ge- ſtellte Laſter freyſprechen. Das geſchah auf die ſchänd- lichſtmöglichſte Weiſe auf und vor Gabbatha — ge- ſchiehet aber, welches ich wohl zu merken bitte, täglich bey jeder Sünde, wie ſie immer Namen haben mag — Was iſt Sünde? — Schlimmes dem Guten, Lüge der Wahrheit, Tod dem Leben, Momente Jahrhunderten — ein viehiſches Vergnügen einem göttlichen und himmli- ſchen vorziehen; Das wählen, deſſen Wahl früh oder ſpäte gereuen wird; Das verwerfen, deſſen Verwer- fung früh’ oder ſpäte das Herz zerſchneiden wird. Wer einen ſchlechten Menſchen einem guten, einen lügen- haften einem Wahrheitliebenden, einen Gottloſen einem Gottſeeligen, einen Chriſtusfeind einem Chriſtusfreun- de vorzieht — Er ſteht vor Gabbatha, und ruft mit dem Pöbel Iſraels — Nicht Jeſum, ſondern den Barrabas laß uns ledig. Aber was wir ja hier nicht übergehen ſollen, iſt das Weib des Pilatus — Gott warnet — warnet den, der

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 509[529]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/537>, abgerufen am 24.11.2024.