Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.Matthäus XXVII. sam und unerschöpflich, so erfindsam, so schief, so lü-genhaft, so bald der Name eines rechtschaffenen würdi- gen Mannes, oder einer Freundinn und Nachbarinn, die besser sind, als ihr, nur genennt, nur ausgespro- chen wird; Was habt ihr gethan, das dem edlen gros- sen Schritte des Mannes gleich sey, über den ihr euch wohl um tausend Stufen erhaben glaubt? Habt ihr je einer Freundinn oder Gespielinn, deren ihr hundert Verläumdungen in's Ohr geflüstert, mit Judas Edel- muth, mit seiner Aufrichtigkeit, seiner Reue, seiner Be- gierde, den Schaden zu vergüten und alle schlimmen Eindrücke eurer Verläumdung zu vertilgen -- innig, herzlich die Worte ausgesprochen: "Ich habe gesündigt, &q;daß ich einen unschuldigen verläumdet; Daß ich ei- &q;nen Menschen, der besser war, als ich, so scharf ver- &q;urtheilt habe." -- -- O Selbstbetrug und Verblen- dung, die unglaublich wäre, wenn sie sich nicht durch zehntausend Beyspiele erhärtete. Bald inner zwanzig Jahren, daß ich mit Menschen aller Art umgehe; Alle Arten von Gewissenszuständen und Bekenntnisse, die ich zu erfahren, und zu bemerken Gelegenheit hatte, bey so vielen Kranken- und Sterbebetten; Bey so vielen hundert Fragen, besonders auch über diesen Punkt der Verläumdung der Unschuld was hab' ich erfahren? Ein einzigesmahl inner zwanzig Jahren gestand mir ein ein- ziger Mensch eine Verläumdung -- O menschliches Herz! Welch ein Abgrund von List, Verschlagenheit, Verblendung bist du! Möchte der verächtlichste Verrä- ther dich die unentbehrliche Tugend des Bekenntnisses deiner
Matthäus XXVII. ſam und unerſchöpflich, ſo erfindſam, ſo ſchief, ſo lü-genhaft, ſo bald der Name eines rechtſchaffenen würdi- gen Mannes, oder einer Freundinn und Nachbarinn, die beſſer ſind, als ihr, nur genennt, nur ausgeſpro- chen wird; Was habt ihr gethan, das dem edlen groſ- ſen Schritte des Mannes gleich ſey, über den ihr euch wohl um tauſend Stufen erhaben glaubt? Habt ihr je einer Freundinn oder Geſpielinn, deren ihr hundert Verläumdungen in’s Ohr geflüſtert, mit Judas Edel- muth, mit ſeiner Aufrichtigkeit, ſeiner Reue, ſeiner Be- gierde, den Schaden zu vergüten und alle ſchlimmen Eindrücke eurer Verläumdung zu vertilgen — innig, herzlich die Worte ausgeſprochen: „Ich habe geſündigt, &q;daß ich einen unſchuldigen verläumdet; Daß ich ei- &q;nen Menſchen, der beſſer war, als ich, ſo ſcharf ver- &q;urtheilt habe.“ — — O Selbſtbetrug und Verblen- dung, die unglaublich wäre, wenn ſie ſich nicht durch zehntauſend Beyſpiele erhärtete. Bald inner zwanzig Jahren, daß ich mit Menſchen aller Art umgehe; Alle Arten von Gewiſſenszuſtänden und Bekenntniſſe, die ich zu erfahren, und zu bemerken Gelegenheit hatte, bey ſo vielen Kranken- und Sterbebetten; Bey ſo vielen hundert Fragen, beſonders auch über dieſen Punkt der Verläumdung der Unſchuld was hab’ ich erfahren? Ein einzigesmahl inner zwanzig Jahren geſtand mir ein ein- ziger Menſch eine Verläumdung — O menſchliches Herz! Welch ein Abgrund von Liſt, Verſchlagenheit, Verblendung biſt du! Möchte der verächtlichſte Verrä- ther dich die unentbehrliche Tugend des Bekenntniſſes deiner
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Matthäus XXVII.
ſam und unerſchöpflich, ſo erfindſam, ſo ſchief, ſo lü-
genhaft, ſo bald der Name eines rechtſchaffenen würdi-
gen Mannes, oder einer Freundinn und Nachbarinn,
die beſſer ſind, als ihr, nur genennt, nur ausgeſpro-
chen wird; Was habt ihr gethan, das dem edlen groſ-
ſen Schritte des Mannes gleich ſey, über den ihr euch
wohl um tauſend Stufen erhaben glaubt? Habt ihr je
einer Freundinn oder Geſpielinn, deren ihr hundert
Verläumdungen in’s Ohr geflüſtert, mit Judas Edel-
muth, mit ſeiner Aufrichtigkeit, ſeiner Reue, ſeiner Be-
gierde, den Schaden zu vergüten und alle ſchlimmen
Eindrücke eurer Verläumdung zu vertilgen — innig,
herzlich die Worte ausgeſprochen: „Ich habe geſündigt,
&q;daß ich einen unſchuldigen verläumdet; Daß ich ei-
&q;nen Menſchen, der beſſer war, als ich, ſo ſcharf ver-
&q;urtheilt habe.“ — — O Selbſtbetrug und Verblen-
dung, die unglaublich wäre, wenn ſie ſich nicht durch
zehntauſend Beyſpiele erhärtete. Bald inner zwanzig
Jahren, daß ich mit Menſchen aller Art umgehe; Alle
Arten von Gewiſſenszuſtänden und Bekenntniſſe, die ich
zu erfahren, und zu bemerken Gelegenheit hatte, bey
ſo vielen Kranken- und Sterbebetten; Bey ſo vielen
hundert Fragen, beſonders auch über dieſen Punkt der
Verläumdung der Unſchuld was hab’ ich erfahren? Ein
einzigesmahl inner zwanzig Jahren geſtand mir ein ein-
ziger Menſch eine Verläumdung — O menſchliches
Herz! Welch ein Abgrund von Liſt, Verſchlagenheit,
Verblendung biſt du! Möchte der verächtlichſte Verrä-
ther dich die unentbehrliche Tugend des Bekenntniſſes
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