Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.Matthäus XXVII. Schrecken und Entsetzen, daß die Sache eine ganz an-dere Wendung nimmt, als er voraussehen konnte. Er hatte vermuthlich gar nicht daran gedacht, oder es sich gar nicht als möglich denken können, daß Christus sich so ganz ihrer Mordsucht preis geben würde. Wie ein Donnerschlag fiel es ihm auf die Seele -- Du bist Ver- räther des unschuldigen Blutes! Die vollendete Sün- de ist eine erschreckliche Erscheinung für den Sünder -- Sie -- und hinter ihr das unvermuthete schreckliche Gefolge von Unordnung, Zerrüttung, Verderben -- Welch ein Anblick für das aufgeweckte Gewissen! Welch ein Anblick für Judas -- Jesus, durch seine nieder- trächtige Verrätherey in den Händen seiner unerbittli- chen Feinde, er Jesus -- von ihnen schon unwiderruf- lich zum Tode verurtheilt -- Jesus vor dem Richter- stuhle des römischen Landvogts gebunden. Und was thut nun Judas? Er thut, was er noch thun kann. Er eilt nicht weg in die Einsamkeit, bloß über sich selbst und sein unsinniges Vergehen zu heulen und wehzuklagen -- Er wirft sich nicht sogleich den Strick um den Hals -- Nein! Er thut noch zuvor einen großen, ich mögte sagen, eines Apostels würdigen Schritt -- Er geht hin zu denen, in deren Hände er die Unschuld überliefert hat- te, bringt den Lohn seiner Greuelthat in seiner Hand, bekennt seine Sünde so unzweydeutig, so öffentlich wie möglich, bekennt sie noch zu einer Zeit, wo zur Rettung der überlieferten Unschuld wo nicht Wahrscheinlichkeit, doch noch Möglichkeit war. Ich habe gesündigt, daß ich unschuldiges Blut verrathen habe. Der Verräther
Matthäus XXVII. Schrecken und Entſetzen, daß die Sache eine ganz an-dere Wendung nimmt, als er vorausſehen konnte. Er hatte vermuthlich gar nicht daran gedacht, oder es ſich gar nicht als möglich denken können, daß Chriſtus ſich ſo ganz ihrer Mordſucht preis geben würde. Wie ein Donnerſchlag fiel es ihm auf die Seele — Du biſt Ver- räther des unſchuldigen Blutes! Die vollendete Sün- de iſt eine erſchreckliche Erſcheinung für den Sünder — Sie — und hinter ihr das unvermuthete ſchreckliche Gefolge von Unordnung, Zerrüttung, Verderben — Welch ein Anblick für das aufgeweckte Gewiſſen! Welch ein Anblick für Judas — Jeſus, durch ſeine nieder- trächtige Verrätherey in den Händen ſeiner unerbittli- chen Feinde, er Jeſus — von ihnen ſchon unwiderruf- lich zum Tode verurtheilt — Jeſus vor dem Richter- ſtuhle des römiſchen Landvogts gebunden. Und was thut nun Judas? Er thut, was er noch thun kann. Er eilt nicht weg in die Einſamkeit, bloß über ſich ſelbſt und ſein unſinniges Vergehen zu heulen und wehzuklagen — Er wirft ſich nicht ſogleich den Strick um den Hals — Nein! Er thut noch zuvor einen großen, ich mögte ſagen, eines Apoſtels würdigen Schritt — Er geht hin zu denen, in deren Hände er die Unſchuld überliefert hat- te, bringt den Lohn ſeiner Greuelthat in ſeiner Hand, bekennt ſeine Sünde ſo unzweydeutig, ſo öffentlich wie möglich, bekennt ſie noch zu einer Zeit, wo zur Rettung der überlieferten Unſchuld wo nicht Wahrſcheinlichkeit, doch noch Möglichkeit war. Ich habe geſündigt, daß ich unſchuldiges Blut verrathen habe. Der Verräther
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Matthäus XXVII.
Schrecken und Entſetzen, daß die Sache eine ganz an-
dere Wendung nimmt, als er vorausſehen konnte. Er
hatte vermuthlich gar nicht daran gedacht, oder es ſich
gar nicht als möglich denken können, daß Chriſtus ſich
ſo ganz ihrer Mordſucht preis geben würde. Wie ein
Donnerſchlag fiel es ihm auf die Seele — Du biſt Ver-
räther des unſchuldigen Blutes! Die vollendete Sün-
de iſt eine erſchreckliche Erſcheinung für den Sünder —
Sie — und hinter ihr das unvermuthete ſchreckliche
Gefolge von Unordnung, Zerrüttung, Verderben —
Welch ein Anblick für das aufgeweckte Gewiſſen! Welch
ein Anblick für Judas — Jeſus, durch ſeine nieder-
trächtige Verrätherey in den Händen ſeiner unerbittli-
chen Feinde, er Jeſus — von ihnen ſchon unwiderruf-
lich zum Tode verurtheilt — Jeſus vor dem Richter-
ſtuhle des römiſchen Landvogts gebunden. Und was
thut nun Judas? Er thut, was er noch thun kann.
Er eilt nicht weg in die Einſamkeit, bloß über ſich ſelbſt
und ſein unſinniges Vergehen zu heulen und wehzuklagen
— Er wirft ſich nicht ſogleich den Strick um den Hals
— Nein! Er thut noch zuvor einen großen, ich mögte
ſagen, eines Apoſtels würdigen Schritt — Er geht hin
zu denen, in deren Hände er die Unſchuld überliefert hat-
te, bringt den Lohn ſeiner Greuelthat in ſeiner Hand,
bekennt ſeine Sünde ſo unzweydeutig, ſo öffentlich wie
möglich, bekennt ſie noch zu einer Zeit, wo zur Rettung
der überlieferten Unſchuld wo nicht Wahrſcheinlichkeit,
doch noch Möglichkeit war. Ich habe geſündigt,
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