Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

Matthäus XXVI.
lichste -- Sich selbst Vorwürfe machen müssen. Sich
selbst als den Urheber der Sünde anklagen -- konnte
hier durchaus nicht statt haben. Der Vater konnte
nicht über den ewiggeliebten Sohn zürnen -- zürnen --
warum? Um seiner Unschuld, seines Gehorsams willen?
-- Wer darf das denken, geschweige aussprechen?
Will man den sehr uneigentlichen, unbiblischen und dem
Mißverstand sehr leicht ausgesetzten Ausdruck ja noch
brauchen: Christus habe an seiner heiligen Mensch-
heit die unendliche Last des Zornes Gottes
er-
tragen -- so muß man den Schlüssel zu diesem Aus-
druck aus den Worten, die gemeiniglich dabey zu stehen
pflegen, hernehmen -- des Zorns Gottes wider die
Sünde.
Ja! Wider die Sünde kann man sagen, zür-
ne Gott, das heißt, Er drücke sein Mißfallen, sei-
nen Abscheu gegen die Sünde auf alle mögliche Weise
aus. Er könne es durchaus dem Sünder nicht immer
so wohl gehen lassen, als dem Frommen. Es seyen
schreckliche Leiden über den Sündenfrohen unbußferti-
gen Sünder verhängt -- Diese Leiden, könnte man
mit Wahrheit sagen, schwebten vermuthlich dem Herrn
vor Augen -- Er sahe im Geiste das dem Sünder
unausweichliche schreckliche Gericht so nahe, als ob es
ihn schon wirklich getroffen; Sahe z. E. Jerusalem
schon zerstört, das Volk Gottes, sein Volk schon aller
königlichen Würden beraubt, ausgeschlossen von seinem
Reiche -- u. s. w. Er dachte sich die Gewissensängste,
die Verzweiflungen unzähliger durch Sünden und Lei-
denschaften von Gott und ihrer Bestimmung unendlich

weit

Matthäus XXVI.
lichſte — Sich ſelbſt Vorwürfe machen müſſen. Sich
ſelbſt als den Urheber der Sünde anklagen — konnte
hier durchaus nicht ſtatt haben. Der Vater konnte
nicht über den ewiggeliebten Sohn zürnen — zürnen —
warum? Um ſeiner Unſchuld, ſeines Gehorſams willen?
— Wer darf das denken, geſchweige ausſprechen?
Will man den ſehr uneigentlichen, unbibliſchen und dem
Mißverſtand ſehr leicht ausgeſetzten Ausdruck ja noch
brauchen: Chriſtus habe an ſeiner heiligen Menſch-
heit die unendliche Laſt des Zornes Gottes
er-
tragen — ſo muß man den Schlüſſel zu dieſem Aus-
druck aus den Worten, die gemeiniglich dabey zu ſtehen
pflegen, hernehmen — des Zorns Gottes wider die
Sünde.
Ja! Wider die Sünde kann man ſagen, zür-
ne Gott, das heißt, Er drücke ſein Mißfallen, ſei-
nen Abſcheu gegen die Sünde auf alle mögliche Weiſe
aus. Er könne es durchaus dem Sünder nicht immer
ſo wohl gehen laſſen, als dem Frommen. Es ſeyen
ſchreckliche Leiden über den Sündenfrohen unbußferti-
gen Sünder verhängt — Dieſe Leiden, könnte man
mit Wahrheit ſagen, ſchwebten vermuthlich dem Herrn
vor Augen — Er ſahe im Geiſte das dem Sünder
unausweichliche ſchreckliche Gericht ſo nahe, als ob es
ihn ſchon wirklich getroffen; Sahe z. E. Jeruſalem
ſchon zerſtört, das Volk Gottes, ſein Volk ſchon aller
königlichen Würden beraubt, ausgeſchloſſen von ſeinem
Reiche — u. ſ. w. Er dachte ſich die Gewiſſensängſte,
die Verzweiflungen unzähliger durch Sünden und Lei-
denſchaften von Gott und ihrer Beſtimmung unendlich

weit
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0490" n="462[482]"/><fw place="top" type="header">Matthäus <hi rendition="#aq">XXVI.</hi></fw><lb/>
lich&#x017F;te &#x2014; Sich &#x017F;elb&#x017F;t Vorwürfe machen mü&#x017F;&#x017F;en. Sich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t als den Urheber der Sünde anklagen &#x2014; konnte<lb/>
hier durchaus nicht &#x017F;tatt haben. Der Vater konnte<lb/>
nicht über den ewiggeliebten Sohn zürnen &#x2014; zürnen &#x2014;<lb/>
warum? Um &#x017F;einer Un&#x017F;chuld, &#x017F;eines Gehor&#x017F;ams willen?<lb/>
&#x2014; Wer darf das denken, ge&#x017F;chweige aus&#x017F;prechen?<lb/>
Will man den &#x017F;ehr uneigentlichen, unbibli&#x017F;chen und dem<lb/>
Mißver&#x017F;tand &#x017F;ehr leicht ausge&#x017F;etzten Ausdruck ja noch<lb/>
brauchen: <hi rendition="#fr">Chri&#x017F;tus habe an &#x017F;einer heiligen Men&#x017F;ch-<lb/>
heit die unendliche La&#x017F;t des Zornes Gottes</hi> er-<lb/>
tragen &#x2014; &#x017F;o muß man den Schlü&#x017F;&#x017F;el zu die&#x017F;em Aus-<lb/>
druck aus den Worten, die gemeiniglich dabey zu &#x017F;tehen<lb/>
pflegen, hernehmen &#x2014; des Zorns Gottes <hi rendition="#fr">wider die<lb/>
Sünde.</hi> Ja! Wider die Sünde kann man &#x017F;agen, zür-<lb/>
ne Gott, das heißt, Er drücke &#x017F;ein Mißfallen, &#x017F;ei-<lb/>
nen Ab&#x017F;cheu gegen die Sünde auf alle mögliche Wei&#x017F;e<lb/>
aus. Er könne es durchaus dem Sünder nicht immer<lb/>
&#x017F;o wohl gehen la&#x017F;&#x017F;en, als dem Frommen. Es &#x017F;eyen<lb/>
&#x017F;chreckliche Leiden über den Sündenfrohen unbußferti-<lb/>
gen Sünder verhängt &#x2014; Die&#x017F;e Leiden, könnte man<lb/>
mit Wahrheit &#x017F;agen, &#x017F;chwebten vermuthlich dem Herrn<lb/>
vor Augen &#x2014; Er &#x017F;ahe im Gei&#x017F;te das dem Sünder<lb/>
unausweichliche &#x017F;chreckliche Gericht &#x017F;o nahe, als ob es<lb/>
ihn &#x017F;chon wirklich getroffen; Sahe z. E. Jeru&#x017F;alem<lb/>
&#x017F;chon zer&#x017F;tört, das Volk Gottes, <hi rendition="#fr">&#x017F;ein</hi> Volk &#x017F;chon aller<lb/>
königlichen Würden beraubt, ausge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en von &#x017F;einem<lb/>
Reiche &#x2014; u. &#x017F;. w. Er dachte &#x017F;ich die Gewi&#x017F;&#x017F;ensäng&#x017F;te,<lb/>
die Verzweiflungen unzähliger durch Sünden und Lei-<lb/>
den&#x017F;chaften von Gott und ihrer Be&#x017F;timmung unendlich<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">weit</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[462[482]/0490] Matthäus XXVI. lichſte — Sich ſelbſt Vorwürfe machen müſſen. Sich ſelbſt als den Urheber der Sünde anklagen — konnte hier durchaus nicht ſtatt haben. Der Vater konnte nicht über den ewiggeliebten Sohn zürnen — zürnen — warum? Um ſeiner Unſchuld, ſeines Gehorſams willen? — Wer darf das denken, geſchweige ausſprechen? Will man den ſehr uneigentlichen, unbibliſchen und dem Mißverſtand ſehr leicht ausgeſetzten Ausdruck ja noch brauchen: Chriſtus habe an ſeiner heiligen Menſch- heit die unendliche Laſt des Zornes Gottes er- tragen — ſo muß man den Schlüſſel zu dieſem Aus- druck aus den Worten, die gemeiniglich dabey zu ſtehen pflegen, hernehmen — des Zorns Gottes wider die Sünde. Ja! Wider die Sünde kann man ſagen, zür- ne Gott, das heißt, Er drücke ſein Mißfallen, ſei- nen Abſcheu gegen die Sünde auf alle mögliche Weiſe aus. Er könne es durchaus dem Sünder nicht immer ſo wohl gehen laſſen, als dem Frommen. Es ſeyen ſchreckliche Leiden über den Sündenfrohen unbußferti- gen Sünder verhängt — Dieſe Leiden, könnte man mit Wahrheit ſagen, ſchwebten vermuthlich dem Herrn vor Augen — Er ſahe im Geiſte das dem Sünder unausweichliche ſchreckliche Gericht ſo nahe, als ob es ihn ſchon wirklich getroffen; Sahe z. E. Jeruſalem ſchon zerſtört, das Volk Gottes, ſein Volk ſchon aller königlichen Würden beraubt, ausgeſchloſſen von ſeinem Reiche — u. ſ. w. Er dachte ſich die Gewiſſensängſte, die Verzweiflungen unzähliger durch Sünden und Lei- denſchaften von Gott und ihrer Beſtimmung unendlich weit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/490
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 462[482]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/490>, abgerufen am 22.11.2024.