Du willst. Und Er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend, und sprach zu Petro: Könnet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen? Wachet und bethet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Zum andernmahl gieng Er aber hin bethete, und sprach: Mein Vater ist's nicht mög- lich, daß dieser Kelch von mir gehe, ich trinke ihn denn? So geschehe dein Wille. Und Er kam und fand sie abermahl schlafend, und ihre Augen waren voll Schlafs. Und Er ließ sie, und gieng abermahl hin, und bethete zum dritten- mahl, und redete dieselbigen Worte.
Wer darf es wagen, über diesen wichtigsten Punkt des Lebens Jesu mit Unerschrockenheit zu reden? Wir stehen an einem Abgrunde. Wir nahen uns, mögt' ich sagen, der Hülle des Allerheiligsten. Wir wissen nicht, was wir sagen, und nicht sagen sollen.
Aus diesem Zagen -- weiter nichts machen, als gemeine kleinmüthige Todesfurcht, oder auf der andern Seite -- Christum zu einem unmittelbaren Gegenstand eines eigentlich göttlichen Zornes machen -- Beydes scheint mir von der evangelischen Wahrheit gleich weit entfernt zu seyn.
Tausend drückende Vorstellungen, die sich in der Seele Jesu gehäuft haben müssen, lassen sich gedenken -- Zehentausend vielleicht nicht. Eigentliche Gewis- sensangst konnte der Unschuldige nicht haben, das Schreck-
lichste
Seelenangſt Jeſu.
Du willſt. Und Er kam zu ſeinen Jüngern und fand ſie ſchlafend, und ſprach zu Petro: Könnet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen? Wachet und bethet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet. Der Geiſt iſt willig, aber das Fleiſch iſt ſchwach. Zum andernmahl gieng Er aber hin bethete, und ſprach: Mein Vater iſt’s nicht mög- lich, daß dieſer Kelch von mir gehe, ich trinke ihn denn? So geſchehe dein Wille. Und Er kam und fand ſie abermahl ſchlafend, und ihre Augen waren voll Schlafs. Und Er ließ ſie, und gieng abermahl hin, und bethete zum dritten- mahl, und redete dieſelbigen Worte.
Wer darf es wagen, über dieſen wichtigſten Punkt des Lebens Jeſu mit Unerſchrockenheit zu reden? Wir ſtehen an einem Abgrunde. Wir nahen uns, mögt’ ich ſagen, der Hülle des Allerheiligſten. Wir wiſſen nicht, was wir ſagen, und nicht ſagen ſollen.
Aus dieſem Zagen — weiter nichts machen, als gemeine kleinmüthige Todesfurcht, oder auf der andern Seite — Chriſtum zu einem unmittelbaren Gegenſtand eines eigentlich göttlichen Zornes machen — Beydes ſcheint mir von der evangeliſchen Wahrheit gleich weit entfernt zu ſeyn.
Tauſend drückende Vorſtellungen, die ſich in der Seele Jeſu gehäuft haben müſſen, laſſen ſich gedenken — Zehentauſend vielleicht nicht. Eigentliche Gewiſ- ſensangſt konnte der Unſchuldige nicht haben, das Schreck-
lichſte
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[461[481]/0489]
Seelenangſt Jeſu.
Du willſt. Und Er kam zu ſeinen Jüngern und
fand ſie ſchlafend, und ſprach zu Petro: Könnet
ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?
Wachet und bethet, daß ihr nicht in Anfechtung
fallet. Der Geiſt iſt willig, aber das Fleiſch iſt
ſchwach. Zum andernmahl gieng Er aber hin
bethete, und ſprach: Mein Vater iſt’s nicht mög-
lich, daß dieſer Kelch von mir gehe, ich trinke
ihn denn? So geſchehe dein Wille. Und Er
kam und fand ſie abermahl ſchlafend, und ihre
Augen waren voll Schlafs. Und Er ließ ſie, und
gieng abermahl hin, und bethete zum dritten-
mahl, und redete dieſelbigen Worte.
Wer darf es wagen, über dieſen wichtigſten Punkt
des Lebens Jeſu mit Unerſchrockenheit zu reden? Wir
ſtehen an einem Abgrunde. Wir nahen uns, mögt’ ich
ſagen, der Hülle des Allerheiligſten. Wir wiſſen nicht,
was wir ſagen, und nicht ſagen ſollen.
Aus dieſem Zagen — weiter nichts machen, als
gemeine kleinmüthige Todesfurcht, oder auf der andern
Seite — Chriſtum zu einem unmittelbaren Gegenſtand
eines eigentlich göttlichen Zornes machen — Beydes
ſcheint mir von der evangeliſchen Wahrheit gleich weit
entfernt zu ſeyn.
Tauſend drückende Vorſtellungen, die ſich in der
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— Zehentauſend vielleicht nicht. Eigentliche Gewiſ-
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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 461[481]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/489>, abgerufen am 22.11.2024.
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