Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

Seelenangst Jesu.
Du willst. Und Er kam zu seinen Jüngern und
fand sie schlafend, und sprach zu Petro: Könnet
ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?
Wachet und bethet, daß ihr nicht in Anfechtung
fallet. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist
schwach. Zum andernmahl gieng Er aber hin
bethete, und sprach: Mein Vater ist's nicht mög-
lich, daß dieser Kelch von mir gehe, ich trinke
ihn denn? So geschehe dein Wille. Und Er
kam und fand sie abermahl schlafend, und ihre
Augen waren voll Schlafs. Und Er ließ sie, und
gieng abermahl hin, und bethete zum dritten-
mahl, und redete dieselbigen Worte.

Wer darf es wagen, über diesen wichtigsten Punkt
des Lebens Jesu mit Unerschrockenheit zu reden? Wir
stehen an einem Abgrunde. Wir nahen uns, mögt' ich
sagen, der Hülle des Allerheiligsten. Wir wissen nicht,
was wir sagen, und nicht sagen sollen.

Aus diesem Zagen -- weiter nichts machen, als
gemeine kleinmüthige Todesfurcht, oder auf der andern
Seite -- Christum zu einem unmittelbaren Gegenstand
eines eigentlich göttlichen Zornes machen -- Beydes
scheint mir von der evangelischen Wahrheit gleich weit
entfernt zu seyn.

Tausend drückende Vorstellungen, die sich in der
Seele Jesu gehäuft haben müssen, lassen sich gedenken
-- Zehentausend vielleicht nicht. Eigentliche Gewis-
sensangst konnte der Unschuldige nicht haben, das Schreck-

lichste

Seelenangſt Jeſu.
Du willſt. Und Er kam zu ſeinen Jüngern und
fand ſie ſchlafend, und ſprach zu Petro: Könnet
ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?
Wachet und bethet, daß ihr nicht in Anfechtung
fallet. Der Geiſt iſt willig, aber das Fleiſch iſt
ſchwach. Zum andernmahl gieng Er aber hin
bethete, und ſprach: Mein Vater iſt’s nicht mög-
lich, daß dieſer Kelch von mir gehe, ich trinke
ihn denn? So geſchehe dein Wille. Und Er
kam und fand ſie abermahl ſchlafend, und ihre
Augen waren voll Schlafs. Und Er ließ ſie, und
gieng abermahl hin, und bethete zum dritten-
mahl, und redete dieſelbigen Worte.

Wer darf es wagen, über dieſen wichtigſten Punkt
des Lebens Jeſu mit Unerſchrockenheit zu reden? Wir
ſtehen an einem Abgrunde. Wir nahen uns, mögt’ ich
ſagen, der Hülle des Allerheiligſten. Wir wiſſen nicht,
was wir ſagen, und nicht ſagen ſollen.

Aus dieſem Zagen — weiter nichts machen, als
gemeine kleinmüthige Todesfurcht, oder auf der andern
Seite — Chriſtum zu einem unmittelbaren Gegenſtand
eines eigentlich göttlichen Zornes machen — Beydes
ſcheint mir von der evangeliſchen Wahrheit gleich weit
entfernt zu ſeyn.

Tauſend drückende Vorſtellungen, die ſich in der
Seele Jeſu gehäuft haben müſſen, laſſen ſich gedenken
— Zehentauſend vielleicht nicht. Eigentliche Gewiſ-
ſensangſt konnte der Unſchuldige nicht haben, das Schreck-

lichſte
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p>
              <pb facs="#f0489" n="461[481]"/>
              <fw place="top" type="header">Seelenang&#x017F;t Je&#x017F;u.</fw><lb/> <hi rendition="#fr">Du will&#x017F;t. Und Er kam zu &#x017F;einen Jüngern und<lb/>
fand &#x017F;ie &#x017F;chlafend, und &#x017F;prach zu Petro: Könnet<lb/>
ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?<lb/>
Wachet und bethet, daß ihr nicht in Anfechtung<lb/>
fallet. Der Gei&#x017F;t i&#x017F;t willig, aber das Flei&#x017F;ch i&#x017F;t<lb/>
&#x017F;chwach. Zum andernmahl gieng Er aber hin<lb/>
bethete, und &#x017F;prach: Mein Vater i&#x017F;t&#x2019;s nicht mög-<lb/>
lich, daß die&#x017F;er Kelch von mir gehe, ich trinke<lb/>
ihn denn? So ge&#x017F;chehe dein Wille. Und Er<lb/>
kam und fand &#x017F;ie abermahl &#x017F;chlafend, und ihre<lb/>
Augen waren voll Schlafs. Und Er ließ &#x017F;ie, und<lb/>
gieng abermahl hin, und bethete zum dritten-<lb/>
mahl, und redete die&#x017F;elbigen Worte.</hi> </p><lb/>
            <p>Wer darf es wagen, über die&#x017F;en wichtig&#x017F;ten Punkt<lb/>
des Lebens Je&#x017F;u mit Uner&#x017F;chrockenheit zu reden? Wir<lb/>
&#x017F;tehen an einem Abgrunde. Wir nahen uns, mögt&#x2019; ich<lb/>
&#x017F;agen, der Hülle des Allerheilig&#x017F;ten. Wir wi&#x017F;&#x017F;en nicht,<lb/>
was wir &#x017F;agen, und nicht &#x017F;agen &#x017F;ollen.</p><lb/>
            <p>Aus die&#x017F;em Zagen &#x2014; weiter nichts machen, als<lb/>
gemeine kleinmüthige Todesfurcht, oder auf der andern<lb/>
Seite &#x2014; Chri&#x017F;tum zu einem unmittelbaren Gegen&#x017F;tand<lb/>
eines eigentlich göttlichen Zornes machen &#x2014; Beydes<lb/>
&#x017F;cheint mir von der evangeli&#x017F;chen Wahrheit gleich weit<lb/>
entfernt zu &#x017F;eyn.</p><lb/>
            <p>Tau&#x017F;end drückende Vor&#x017F;tellungen, die &#x017F;ich in der<lb/>
Seele Je&#x017F;u gehäuft haben mü&#x017F;&#x017F;en, la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich gedenken<lb/>
&#x2014; Zehentau&#x017F;end vielleicht nicht. Eigentliche Gewi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ensang&#x017F;t konnte der Un&#x017F;chuldige nicht haben, das Schreck-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">lich&#x017F;te</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[461[481]/0489] Seelenangſt Jeſu. Du willſt. Und Er kam zu ſeinen Jüngern und fand ſie ſchlafend, und ſprach zu Petro: Könnet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen? Wachet und bethet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet. Der Geiſt iſt willig, aber das Fleiſch iſt ſchwach. Zum andernmahl gieng Er aber hin bethete, und ſprach: Mein Vater iſt’s nicht mög- lich, daß dieſer Kelch von mir gehe, ich trinke ihn denn? So geſchehe dein Wille. Und Er kam und fand ſie abermahl ſchlafend, und ihre Augen waren voll Schlafs. Und Er ließ ſie, und gieng abermahl hin, und bethete zum dritten- mahl, und redete dieſelbigen Worte. Wer darf es wagen, über dieſen wichtigſten Punkt des Lebens Jeſu mit Unerſchrockenheit zu reden? Wir ſtehen an einem Abgrunde. Wir nahen uns, mögt’ ich ſagen, der Hülle des Allerheiligſten. Wir wiſſen nicht, was wir ſagen, und nicht ſagen ſollen. Aus dieſem Zagen — weiter nichts machen, als gemeine kleinmüthige Todesfurcht, oder auf der andern Seite — Chriſtum zu einem unmittelbaren Gegenſtand eines eigentlich göttlichen Zornes machen — Beydes ſcheint mir von der evangeliſchen Wahrheit gleich weit entfernt zu ſeyn. Tauſend drückende Vorſtellungen, die ſich in der Seele Jeſu gehäuft haben müſſen, laſſen ſich gedenken — Zehentauſend vielleicht nicht. Eigentliche Gewiſ- ſensangſt konnte der Unſchuldige nicht haben, das Schreck- lichſte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/489
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 461[481]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/489>, abgerufen am 22.11.2024.