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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

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Matthäus VIII.
Er nicht so leicht, so ungehemmt auf uns wirken kann,
wie er vor Jahrhunderten auf die an Ihn gläubende
Menschheit wirkte, -- so ist's pure baare Schwärmerey,
Ihn anzubethen. Etwas anbethen, das mir doch
nicht geben kann, was ich auf Erden, was ich in mir
und ausser mir -- in der Natur -- umsonst suche; Et-
was anbethen, das nicht hat, was ich suche -- ist Thor-
heit und Abgötterey. Wer Christum anbethet, Ihn
anruft um Hülfe, Wirkungen von Ihm verlangt --
und weiß oder denkt: Er lebt nicht im Himmel; Er
kann nicht wirken -- Er kennt mich nicht; Er hat
nichts besonders auch für mich -- der ist kurzum ein Thor,
oder ein Heuchler und Abgötter. Wer Christum an-
bethet im Geist und in der Wahrheit; Wer Ihn ehret,
wie den Vater, der Ihn gesendet und bevollmächtigt
hat; Wer überzeugt ist, daß der Vater Ihm alles in
die Hände gegeben hat
-- und wie kann der, der
nicht dieses Sinnes ist, einen Blick gethan haben in's
Evangelium -- sich träumen, ein Christ zu seyn? --
Dem ist keine Sprache natürlicher, dem quillt keine tie-
fer aus der Seele, als die -- "Jesus Meßias, er-
barme Dich mein!
" Der läßt sich durch nichts hin-
dern und abhalten, zu Ihm zu dringen mit aller Glau-
benskraft seiner Seele und Ihn so zu geniessen und zu
erfahren in seinen Bedürfnissen, wie die Nothleidende
in der Evangelischen Geschichte Ihn suchten und genos-
sen in den ihrigen. Er wird sich in dieser Sprache des
Dranges und des Zutrauens ganz erkennen. Er wird
dem Gedanken nicht weiter Raum gönnen -- "der kann

oder

Matthäus VIII.
Er nicht ſo leicht, ſo ungehemmt auf uns wirken kann,
wie er vor Jahrhunderten auf die an Ihn gläubende
Menſchheit wirkte, — ſo iſt’s pure baare Schwärmerey,
Ihn anzubethen. Etwas anbethen, das mir doch
nicht geben kann, was ich auf Erden, was ich in mir
und auſſer mir — in der Natur — umſonſt ſuche; Et-
was anbethen, das nicht hat, was ich ſuche — iſt Thor-
heit und Abgötterey. Wer Chriſtum anbethet, Ihn
anruft um Hülfe, Wirkungen von Ihm verlangt —
und weiß oder denkt: Er lebt nicht im Himmel; Er
kann nicht wirken — Er kennt mich nicht; Er hat
nichts beſonders auch für mich — der iſt kurzum ein Thor,
oder ein Heuchler und Abgötter. Wer Chriſtum an-
bethet im Geiſt und in der Wahrheit; Wer Ihn ehret,
wie den Vater, der Ihn geſendet und bevollmächtigt
hat; Wer überzeugt iſt, daß der Vater Ihm alles in
die Hände gegeben hat
— und wie kann der, der
nicht dieſes Sinnes iſt, einen Blick gethan haben in’s
Evangelium — ſich träumen, ein Chriſt zu ſeyn? —
Dem iſt keine Sprache natürlicher, dem quillt keine tie-
fer aus der Seele, als die — „Jeſus Meßias, er-
barme Dich mein!
„ Der läßt ſich durch nichts hin-
dern und abhalten, zu Ihm zu dringen mit aller Glau-
benskraft ſeiner Seele und Ihn ſo zu genieſſen und zu
erfahren in ſeinen Bedürfniſſen, wie die Nothleidende
in der Evangeliſchen Geſchichte Ihn ſuchten und genoſ-
ſen in den ihrigen. Er wird ſich in dieſer Sprache des
Dranges und des Zutrauens ganz erkennen. Er wird
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[80[100]/0108] Matthäus VIII. Er nicht ſo leicht, ſo ungehemmt auf uns wirken kann, wie er vor Jahrhunderten auf die an Ihn gläubende Menſchheit wirkte, — ſo iſt’s pure baare Schwärmerey, Ihn anzubethen. Etwas anbethen, das mir doch nicht geben kann, was ich auf Erden, was ich in mir und auſſer mir — in der Natur — umſonſt ſuche; Et- was anbethen, das nicht hat, was ich ſuche — iſt Thor- heit und Abgötterey. Wer Chriſtum anbethet, Ihn anruft um Hülfe, Wirkungen von Ihm verlangt — und weiß oder denkt: Er lebt nicht im Himmel; Er kann nicht wirken — Er kennt mich nicht; Er hat nichts beſonders auch für mich — der iſt kurzum ein Thor, oder ein Heuchler und Abgötter. Wer Chriſtum an- bethet im Geiſt und in der Wahrheit; Wer Ihn ehret, wie den Vater, der Ihn geſendet und bevollmächtigt hat; Wer überzeugt iſt, daß der Vater Ihm alles in die Hände gegeben hat — und wie kann der, der nicht dieſes Sinnes iſt, einen Blick gethan haben in’s Evangelium — ſich träumen, ein Chriſt zu ſeyn? — Dem iſt keine Sprache natürlicher, dem quillt keine tie- fer aus der Seele, als die — „Jeſus Meßias, er- barme Dich mein!„ Der läßt ſich durch nichts hin- dern und abhalten, zu Ihm zu dringen mit aller Glau- benskraft ſeiner Seele und Ihn ſo zu genieſſen und zu erfahren in ſeinen Bedürfniſſen, wie die Nothleidende in der Evangeliſchen Geſchichte Ihn ſuchten und genoſ- ſen in den ihrigen. Er wird ſich in dieſer Sprache des Dranges und des Zutrauens ganz erkennen. Er wird dem Gedanken nicht weiter Raum gönnen — „der kann oder

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 80[100]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/108>, abgerufen am 13.06.2024.