Religion die öffentliche Meynung leiten sollte: aber nun fragte sich: was?
Sollte man einen neuen Gottesdienst einfüh- ren? Das wäre höchst inkonsequent gewesen! Nein, es mußte, so zu sagen, eine Anarchie in der Re- ligion entstehen, und um diese Anarchie herbeyzu- führen, beschloß der Konvent, daß in jeder Stadt, auch in jedem Dorfe, ein Tempel der Vernunft seyn könnte, nicht seyn müßte. In diesem Tempel der Vernunft sollten alle zehn Tage Re- den gehalten werden können zur Begründung der ächten Bürgertugenden, und der Ausrottung des Aberglaubens, d. i. der bisherigen öffentlichen Religion.
Die Jakobiner, deren Namen damals Legion hieß, bemeisterten sich sofort dieses Tempels, und nur ächte Jakobiner hielten die Reden darin. Ge- wöhnlich waren die Kathedralkirchen, oder sonst die vornehmsten dazu ausersehen, und der Redner bestieg an den festgesezten Tagen die Kanzel. Weil aber auch diese als ein schädliches und verhaßtes Erinnerungsmittel, den Jakobinern ein Dorn in den Augen war, so riß man sie überall ein, und errichtete für den Redner eine eigne Bühne.
Die Reden mußten jedesmal zuvor im Jako- binerklub vorgelegt und geprüft werden, damit ja nichts darin vorkäme, was nur von weitem nach
Religion die oͤffentliche Meynung leiten ſollte: aber nun fragte ſich: was?
Sollte man einen neuen Gottesdienſt einfuͤh- ren? Das waͤre hoͤchſt inkonſequent geweſen! Nein, es mußte, ſo zu ſagen, eine Anarchie in der Re- ligion entſtehen, und um dieſe Anarchie herbeyzu- fuͤhren, beſchloß der Konvent, daß in jeder Stadt, auch in jedem Dorfe, ein Tempel der Vernunft ſeyn koͤnnte, nicht ſeyn muͤßte. In dieſem Tempel der Vernunft ſollten alle zehn Tage Re- den gehalten werden koͤnnen zur Begruͤndung der aͤchten Buͤrgertugenden, und der Ausrottung des Aberglaubens, d. i. der bisherigen oͤffentlichen Religion.
Die Jakobiner, deren Namen damals Legion hieß, bemeiſterten ſich ſofort dieſes Tempels, und nur aͤchte Jakobiner hielten die Reden darin. Ge- woͤhnlich waren die Kathedralkirchen, oder ſonſt die vornehmſten dazu auserſehen, und der Redner beſtieg an den feſtgeſezten Tagen die Kanzel. Weil aber auch dieſe als ein ſchaͤdliches und verhaßtes Erinnerungsmittel, den Jakobinern ein Dorn in den Augen war, ſo riß man ſie uͤberall ein, und errichtete fuͤr den Redner eine eigne Buͤhne.
Die Reden mußten jedesmal zuvor im Jako- binerklub vorgelegt und gepruͤft werden, damit ja nichts darin vorkaͤme, was nur von weitem nach
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Religion die oͤffentliche Meynung leiten ſollte:
aber nun fragte ſich: was?
Sollte man einen neuen Gottesdienſt einfuͤh-
ren? Das waͤre hoͤchſt inkonſequent geweſen! Nein,
es mußte, ſo zu ſagen, eine Anarchie in der Re-
ligion entſtehen, und um dieſe Anarchie herbeyzu-
fuͤhren, beſchloß der Konvent, daß in jeder Stadt,
auch in jedem Dorfe, ein Tempel der Vernunft
ſeyn koͤnnte, nicht ſeyn muͤßte. In dieſem
Tempel der Vernunft ſollten alle zehn Tage Re-
den gehalten werden koͤnnen zur Begruͤndung
der aͤchten Buͤrgertugenden, und der Ausrottung
des Aberglaubens, d. i. der bisherigen oͤffentlichen
Religion.
Die Jakobiner, deren Namen damals Legion
hieß, bemeiſterten ſich ſofort dieſes Tempels, und
nur aͤchte Jakobiner hielten die Reden darin. Ge-
woͤhnlich waren die Kathedralkirchen, oder ſonſt
die vornehmſten dazu auserſehen, und der Redner
beſtieg an den feſtgeſezten Tagen die Kanzel. Weil
aber auch dieſe als ein ſchaͤdliches und verhaßtes
Erinnerungsmittel, den Jakobinern ein Dorn in
den Augen war, ſo riß man ſie uͤberall ein, und
errichtete fuͤr den Redner eine eigne Buͤhne.
Die Reden mußten jedesmal zuvor im Jako-
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Laukhard, Friedrich Christian: F. C. Laukhards Leben und Schicksale. Bd. 4,1. Leipzig, 1797, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laukhard_leben0401_1797/288>, abgerufen am 22.11.2024.
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