Herr Semler hatte mir aufgetragen, ihn den andern Morgen wieder zu besuchen, um wegen mei- ner Bestimmung weiter mit mir zu reden. Als ich nun kam, gab er mir einen Brief an den verstor- benen Direktor des Waisenhauses, Herrn Frei- lingshausen. Dieser empfing mich sehr freund- lich, ließ mich den 28. Psalm exponiren, wie auch die Ode des Horatius: Qualem ministrum fulmi- nis alitem, lobte meine Kenntnisse und schickte mich an den verstorbenen Inspektor Melle, welcher mir im sechsten, oder dem sogenannten Knappischen, Ein- gange auf Nummer 16 ein Logis anwies. Meine Stubenburschen waren Pöhler, ein naher An- verwandter des D. Semlers, ein Mann von viel Kopf und viel litterarischen Kenntnissen. Der an- dere hieß Molweide. Beide waren seelengute Leute und wir lebten so friedlich und einig beisam- men, wie Brüder. Mit Vergnügen erinnere ich mich noch der herrlichen Tage, die ich auf dem Waisen- hause zu meinem wahren Nutzen verlebt und her- nach nicht mehr geschmeckt habe. Ausser diesen lern- te ich bald noch einen sehr würdigen jungen Mann kennen, der bei Herrn Professor Niemeyer wohnte und Bartholdi hieß. Dieser schien gar nicht Student zu seyn: so wenig kam er in Studenten- gesellschaften und so wenig verstand er vom Com- ment. Dafür hatte er aber reine Sitten und viel
Herr Semler hatte mir aufgetragen, ihn den andern Morgen wieder zu beſuchen, um wegen mei- ner Beſtimmung weiter mit mir zu reden. Als ich nun kam, gab er mir einen Brief an den verſtor- benen Direktor des Waiſenhauſes, Herrn Frei- lingshauſen. Dieſer empfing mich ſehr freund- lich, ließ mich den 28. Pſalm exponiren, wie auch die Ode des Horatius: Qualem miniſtrum fulmi- nis alitem, lobte meine Kenntniſſe und ſchickte mich an den verſtorbenen Inſpektor Melle, welcher mir im ſechſten, oder dem ſogenannten Knappiſchen, Ein- gange auf Nummer 16 ein Logis anwies. Meine Stubenburſchen waren Poͤhler, ein naher An- verwandter des D. Semlers, ein Mann von viel Kopf und viel litterariſchen Kenntniſſen. Der an- dere hieß Molweide. Beide waren ſeelengute Leute und wir lebten ſo friedlich und einig beiſam- men, wie Bruͤder. Mit Vergnuͤgen erinnere ich mich noch der herrlichen Tage, die ich auf dem Waiſen- hauſe zu meinem wahren Nutzen verlebt und her- nach nicht mehr geſchmeckt habe. Auſſer dieſen lern- te ich bald noch einen ſehr wuͤrdigen jungen Mann kennen, der bei Herrn Profeſſor Niemeyer wohnte und Bartholdi hieß. Dieſer ſchien gar nicht Student zu ſeyn: ſo wenig kam er in Studenten- geſellſchaften und ſo wenig verſtand er vom Com- ment. Dafuͤr hatte er aber reine Sitten und viel
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Herr Semler hatte mir aufgetragen, ihn den
andern Morgen wieder zu beſuchen, um wegen mei-
ner Beſtimmung weiter mit mir zu reden. Als ich
nun kam, gab er mir einen Brief an den verſtor-
benen Direktor des Waiſenhauſes, Herrn Frei-
lingshauſen. Dieſer empfing mich ſehr freund-
lich, ließ mich den 28. Pſalm exponiren, wie auch
die Ode des Horatius: Qualem miniſtrum fulmi-
nis alitem, lobte meine Kenntniſſe und ſchickte mich
an den verſtorbenen Inſpektor Melle, welcher mir
im ſechſten, oder dem ſogenannten Knappiſchen, Ein-
gange auf Nummer 16 ein Logis anwies. Meine
Stubenburſchen waren Poͤhler, ein naher An-
verwandter des D. Semlers, ein Mann von viel
Kopf und viel litterariſchen Kenntniſſen. Der an-
dere hieß Molweide. Beide waren ſeelengute
Leute und wir lebten ſo friedlich und einig beiſam-
men, wie Bruͤder. Mit Vergnuͤgen erinnere ich mich
noch der herrlichen Tage, die ich auf dem Waiſen-
hauſe zu meinem wahren Nutzen verlebt und her-
nach nicht mehr geſchmeckt habe. Auſſer dieſen lern-
te ich bald noch einen ſehr wuͤrdigen jungen Mann
kennen, der bei Herrn Profeſſor Niemeyer wohnte
und Bartholdi hieß. Dieſer ſchien gar nicht
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geſellſchaften und ſo wenig verſtand er vom Com-
ment. Dafuͤr hatte er aber reine Sitten und viel
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Laukhard, Friedrich Christian: F. C. Laukhards Leben und Schicksale. Bd. 2. Halle, 1792, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laukhard_leben02_1792/93>, abgerufen am 24.11.2024.
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