er mir mitschickte, wollten wenig helfen, merkwür- digerweise auch Shakesspeare nicht: seine Dinge fielen all in eine tobendere, willkührlicher wechselnde Zeit, als daß eine Vergleichung gepaßt hätte, seine Gedanken überstürzen sich in ihrem Reichthume so, daß sie mir deshalb weniger wahr und nothwendig vorkommen. Er schüttet sie, dachte ich, aus einem Füllhorn des Genies, unüberlegt, ungepflegt und ungeprüft, er weiß selbst nicht, ob sie immer wahr sind. Und es tröstet nur, was der Tröstende selbst glaubt, und wenn wir sehen, daß sich das Wort des Schreibenden wirklich bewährt hat. Deshalb vielleicht war mir Göthe allein von Erquickung: da war nichts Ueberspanntes, Uebertriebenes, nur das Zuverlässige war einfach gesagt, das Verlangen an die Welt war immer gemessen -- diese Lektüre allein gab mir Ruhe. -- Und was glaubte ich damals zu leiden, wenn ich nichts anzufangen wußte, als zu lesen, einmal an's Fenster zu klet- tern, in den leeren Hof hinabzusehen, wo eintönig die Schildwache auf- und niederschritt, und dann wieder zu lesen! Man wird so wüst davon, man schlingt am Ende ohne Unterscheidung Alles hin-
er mir mitſchickte, wollten wenig helfen, merkwür- digerweiſe auch Shakesſpeare nicht: ſeine Dinge fielen all in eine tobendere, willkührlicher wechſelnde Zeit, als daß eine Vergleichung gepaßt hätte, ſeine Gedanken überſtürzen ſich in ihrem Reichthume ſo, daß ſie mir deshalb weniger wahr und nothwendig vorkommen. Er ſchüttet ſie, dachte ich, aus einem Füllhorn des Genies, unüberlegt, ungepflegt und ungeprüft, er weiß ſelbſt nicht, ob ſie immer wahr ſind. Und es tröſtet nur, was der Tröſtende ſelbſt glaubt, und wenn wir ſehen, daß ſich das Wort des Schreibenden wirklich bewährt hat. Deshalb vielleicht war mir Göthe allein von Erquickung: da war nichts Ueberſpanntes, Uebertriebenes, nur das Zuverläſſige war einfach geſagt, das Verlangen an die Welt war immer gemeſſen — dieſe Lektüre allein gab mir Ruhe. — Und was glaubte ich damals zu leiden, wenn ich nichts anzufangen wußte, als zu leſen, einmal an’s Fenſter zu klet- tern, in den leeren Hof hinabzuſehen, wo eintönig die Schildwache auf- und niederſchritt, und dann wieder zu leſen! Man wird ſo wüſt davon, man ſchlingt am Ende ohne Unterſcheidung Alles hin-
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er mir mitſchickte, wollten wenig helfen, merkwür-
digerweiſe auch Shakesſpeare nicht: ſeine Dinge
fielen all in eine tobendere, willkührlicher wechſelnde
Zeit, als daß eine Vergleichung gepaßt hätte, ſeine
Gedanken überſtürzen ſich in ihrem Reichthume ſo,
daß ſie mir deshalb weniger wahr und nothwendig
vorkommen. Er ſchüttet ſie, dachte ich, aus einem
Füllhorn des Genies, unüberlegt, ungepflegt und
ungeprüft, er weiß ſelbſt nicht, ob ſie immer wahr
ſind. Und es tröſtet nur, was der Tröſtende ſelbſt
glaubt, und wenn wir ſehen, daß ſich das Wort
des Schreibenden wirklich bewährt hat. Deshalb
vielleicht war mir Göthe allein von Erquickung:
da war nichts Ueberſpanntes, Uebertriebenes, nur
das Zuverläſſige war einfach geſagt, das Verlangen
an die Welt war immer gemeſſen — dieſe Lektüre
allein gab mir Ruhe. — Und was glaubte ich
damals zu leiden, wenn ich nichts anzufangen
wußte, als zu leſen, einmal an’s Fenſter zu klet-
tern, in den leeren Hof hinabzuſehen, wo eintönig
die Schildwache auf- und niederſchritt, und dann
wieder zu leſen! Man wird ſo wüſt davon, man
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Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 3. Mannheim, 1837, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa03_1837/88>, abgerufen am 26.11.2024.
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