in die Seele der Welt hineinzublicken. Er befand sich auf jenem traurigen Standpunkte menschlicher Entwickelung, wo der graue Zweifel, die aschfarbene Ungewißheit Herz und Geist anfüllt, wo bei leiden- schaftlichen Menschen die Verzweiflung ausbricht, bei Ruhigern aber jene tödtliche Gleichgültigkeit des Unbehagens. Sogar die Vergangenheit war ihm verleidet: sein eignes sichres, abgemachtes Wesen, was ihn früher ausgezeichnet hatte, war jetzt seiner Erinnerung ein Gräuel. Abgeschmackt, eitel, thö- richt erschien ihm diese knabenhafte Sicherheit, dies ganze gesetzte Wesen, das ihm stets ein so großes Uebergewicht unter seiner Umgebung eingeräumt hatte.
Und doch waren es nicht jene Freiheitsgedanken an sich, die er jetzt bezweifelte, es waren die Ver- hältnisse im Großen, die allgemeinen historischen Entwickelungen, die ihm den Geist mit Dämmerung bedeckten. Er ahnete das Tausendfältige der mensch- lichen Zustände, die tausendfältigen Nüancen der Weltgeschichte, die millionenfachen Wechsel in der Gestalt eines Jahrhunderts und in der Gestalt sei- ner Wünsche und Bedürfnisse. Er sah die Armuth
III. 4
in die Seele der Welt hineinzublicken. Er befand ſich auf jenem traurigen Standpunkte menſchlicher Entwickelung, wo der graue Zweifel, die aſchfarbene Ungewißheit Herz und Geiſt anfüllt, wo bei leiden- ſchaftlichen Menſchen die Verzweiflung ausbricht, bei Ruhigern aber jene tödtliche Gleichgültigkeit des Unbehagens. Sogar die Vergangenheit war ihm verleidet: ſein eignes ſichres, abgemachtes Weſen, was ihn früher ausgezeichnet hatte, war jetzt ſeiner Erinnerung ein Gräuel. Abgeſchmackt, eitel, thö- richt erſchien ihm dieſe knabenhafte Sicherheit, dies ganze geſetzte Weſen, das ihm ſtets ein ſo großes Uebergewicht unter ſeiner Umgebung eingeräumt hatte.
Und doch waren es nicht jene Freiheitsgedanken an ſich, die er jetzt bezweifelte, es waren die Ver- hältniſſe im Großen, die allgemeinen hiſtoriſchen Entwickelungen, die ihm den Geiſt mit Dämmerung bedeckten. Er ahnete das Tauſendfältige der menſch- lichen Zuſtände, die tauſendfältigen Nüancen der Weltgeſchichte, die millionenfachen Wechſel in der Geſtalt eines Jahrhunderts und in der Geſtalt ſei- ner Wünſche und Bedürfniſſe. Er ſah die Armuth
III. 4
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in die Seele der Welt hineinzublicken. Er befand
ſich auf jenem traurigen Standpunkte menſchlicher
Entwickelung, wo der graue Zweifel, die aſchfarbene
Ungewißheit Herz und Geiſt anfüllt, wo bei leiden-
ſchaftlichen Menſchen die Verzweiflung ausbricht,
bei Ruhigern aber jene tödtliche Gleichgültigkeit des
Unbehagens. Sogar die Vergangenheit war ihm
verleidet: ſein eignes ſichres, abgemachtes Weſen,
was ihn früher ausgezeichnet hatte, war jetzt ſeiner
Erinnerung ein Gräuel. Abgeſchmackt, eitel, thö-
richt erſchien ihm dieſe knabenhafte Sicherheit, dies
ganze geſetzte Weſen, das ihm ſtets ein ſo großes
Uebergewicht unter ſeiner Umgebung eingeräumt
hatte.
Und doch waren es nicht jene Freiheitsgedanken
an ſich, die er jetzt bezweifelte, es waren die Ver-
hältniſſe im Großen, die allgemeinen hiſtoriſchen
Entwickelungen, die ihm den Geiſt mit Dämmerung
bedeckten. Er ahnete das Tauſendfältige der menſch-
lichen Zuſtände, die tauſendfältigen Nüancen der
Weltgeſchichte, die millionenfachen Wechſel in der
Geſtalt eines Jahrhunderts und in der Geſtalt ſei-
ner Wünſche und Bedürfniſſe. Er ſah die Armuth
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Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 2, 1. Mannheim, 1837, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa0201_1837/83>, abgerufen am 19.07.2024.
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