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Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 1, 1. Leipzig, 1833.

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Das Palais liegt, wie Du weißt, halb im Freien;
ich wollte in frischer Luft und Nacht die Stunde ver¬
bringen und schlenderte auf die Promenade und auf
die Wege, die zu den umliegenden Gärten führen. Aus
einem etwas seitab liegenden Gartenhause hör' ich Mu¬
sik, eine Singstimme zum Clavier und zwar Juliens
Arie aus der Vestalin, die ich liebe. Ich gehe hinan
und aus einem hohen Parterrezimmer klingt die schöne
volle Frauenstimme. Ein Gartenschemel, der in der
Nähe steht, soll mir die Aussicht ins Zimmer gewähren,
er wird unters Fenster getragen, ich steige hinauf und
sehe eine Dame im schwarzseidnen Ueberrocke, mir den
Rücken zukehrend, am Klavier sitzen. Die Arie ist zu
Ende, sie läßt die Hände in den Schooß, den Kopf
nach vorn nieder sinken. Ich rege mich nicht. Sie
hebt eine Hand und fährt leise mit ihr auf den Tasten
herum. Dabei bewegt sie den Kopf ein wenig nach
der Seite, ich sehe das Profil, es ist -- Desdemona.
"Guten Abend Desdemona!" -- Sie fährt auf, sieht,
erkennt mich, springt ans Fenster, greift nach meiner
Hand, bedeckt sie mit Küssen und spricht: "Mein lieb¬
ster Hyppolit." Sie fragt nach nichts, sie schilt nicht,
sie gießt nur ihre Seele aus dem Auge in das meine;

Das Palais liegt, wie Du weißt, halb im Freien;
ich wollte in friſcher Luft und Nacht die Stunde ver¬
bringen und ſchlenderte auf die Promenade und auf
die Wege, die zu den umliegenden Gärten führen. Aus
einem etwas ſeitab liegenden Gartenhauſe hör' ich Mu¬
ſik, eine Singſtimme zum Clavier und zwar Juliens
Arie aus der Veſtalin, die ich liebe. Ich gehe hinan
und aus einem hohen Parterrezimmer klingt die ſchöne
volle Frauenſtimme. Ein Gartenſchemel, der in der
Nähe ſteht, ſoll mir die Ausſicht ins Zimmer gewähren,
er wird unters Fenſter getragen, ich ſteige hinauf und
ſehe eine Dame im ſchwarzſeidnen Ueberrocke, mir den
Rücken zukehrend, am Klavier ſitzen. Die Arie iſt zu
Ende, ſie läßt die Hände in den Schooß, den Kopf
nach vorn nieder ſinken. Ich rege mich nicht. Sie
hebt eine Hand und fährt leiſe mit ihr auf den Taſten
herum. Dabei bewegt ſie den Kopf ein wenig nach
der Seite, ich ſehe das Profil, es iſt — Desdemona.
„Guten Abend Desdemona!“ — Sie fährt auf, ſieht,
erkennt mich, ſpringt ans Fenſter, greift nach meiner
Hand, bedeckt ſie mit Küſſen und ſpricht: „Mein lieb¬
ſter Hyppolit.“ Sie fragt nach nichts, ſie ſchilt nicht,
ſie gießt nur ihre Seele aus dem Auge in das meine;

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[127/0137] Das Palais liegt, wie Du weißt, halb im Freien; ich wollte in friſcher Luft und Nacht die Stunde ver¬ bringen und ſchlenderte auf die Promenade und auf die Wege, die zu den umliegenden Gärten führen. Aus einem etwas ſeitab liegenden Gartenhauſe hör' ich Mu¬ ſik, eine Singſtimme zum Clavier und zwar Juliens Arie aus der Veſtalin, die ich liebe. Ich gehe hinan und aus einem hohen Parterrezimmer klingt die ſchöne volle Frauenſtimme. Ein Gartenſchemel, der in der Nähe ſteht, ſoll mir die Ausſicht ins Zimmer gewähren, er wird unters Fenſter getragen, ich ſteige hinauf und ſehe eine Dame im ſchwarzſeidnen Ueberrocke, mir den Rücken zukehrend, am Klavier ſitzen. Die Arie iſt zu Ende, ſie läßt die Hände in den Schooß, den Kopf nach vorn nieder ſinken. Ich rege mich nicht. Sie hebt eine Hand und fährt leiſe mit ihr auf den Taſten herum. Dabei bewegt ſie den Kopf ein wenig nach der Seite, ich ſehe das Profil, es iſt — Desdemona. „Guten Abend Desdemona!“ — Sie fährt auf, ſieht, erkennt mich, ſpringt ans Fenſter, greift nach meiner Hand, bedeckt ſie mit Küſſen und ſpricht: „Mein lieb¬ ſter Hyppolit.“ Sie fragt nach nichts, ſie ſchilt nicht, ſie gießt nur ihre Seele aus dem Auge in das meine;

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Zitationshilfe: Laube, Heinrich: Das junge Europa. Bd. 1, 1. Leipzig, 1833, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laube_europa0101_1833/137>, abgerufen am 07.05.2024.