Das sind in der That Grundsätze physikalischer Forschung, deren Erkenntnis zu jener Zeit ebenso überrascht, wie sie vor- läufig für die Entwickelung der Körperlehre unfruchtbar bleiben mußten. Ihr Auftreten bei Hugo von St. Victor erklärt sich hier im Zusammenhange mit den im Anfang des 12. Jahr- hunderts sich regenden Einflüssen der antiken Wissenschaft.1
10. Die Korpuskulartheorie verschwindet wieder.
Die hier zusammengestellten Ansichten aus dem Dialog De generibus et speciebus, aus Adelard von Bath, Wilhelm von Conches und Hugo von St. Victor wären wohl geeignet gewesen, eine korpuskulare Theorie der Materie zu begründen und die antike Atomenlehre wieder zu verwerten. Aber die Zeit dazu war noch nicht gekommen.
Zunächst war das Interesse der Zeit noch ein ausschließlich theologisches und die Kirche so übermächtig bestimmend für alles geistige Leben, daß eine wirksame Behandlung physikalischer Probleme nicht aufkommen konnte. Die autoritative Gewalt der Kirchenväter, welche sich gegen die Physik überhaupt, namentlich aber gegen jeden atomistischen Anklang gerichtet hatte, hält das Denken gefesselt. Selbständige Ansichten zu haben macht schon verdächtig, und wer etwas Eigenes publi- zieren will, legt es einer fremden Person in den Mund, wie Adelard den Arabern, indem er sich zugleich über diesen Fehler seiner Zeit bitter beklagt.2
Ehe die Theorie des Körpers weitere Fortschritte machen konnte, mußte erst das naturwissenschaftliche Interesse wieder geweckt werden. Es geschah dies durch das Bekanntwerden der empirischen naturwissenschaftlichen Kenntnisse der Araber im Abendlande. Wir sehen, wie sogleich im ersten Beginn dieser Einwirkung arabischen Wissens das physikalische Interesse steigt, und wie es sofort sich in der Form der Korpuskular- theorie äußert, wo das Nachdenken sich auf das Problem des Körpers richtet. Zu einer fruchtbaren Ausbildung dieser
1 Bei Xaver Pfeifer, Die Controverse über das Beharren der Elemente in den Verbindungen von Aristoteles bis zur Gegenwart (Dillingen 1879. S. 81) fehlt die Kenntnis dieses Zusammenhangs.
2 S. Jourdain a. a. O. S. 259.
Wiederverschwinden der Korpuskulartheorie.
Das sind in der That Grundsätze physikalischer Forschung, deren Erkenntnis zu jener Zeit ebenso überrascht, wie sie vor- läufig für die Entwickelung der Körperlehre unfruchtbar bleiben mußten. Ihr Auftreten bei Hugo von St. Victor erklärt sich hier im Zusammenhange mit den im Anfang des 12. Jahr- hunderts sich regenden Einflüssen der antiken Wissenschaft.1
10. Die Korpuskulartheorie verschwindet wieder.
Die hier zusammengestellten Ansichten aus dem Dialog De generibus et speciebus, aus Adelard von Bath, Wilhelm von Conches und Hugo von St. Victor wären wohl geeignet gewesen, eine korpuskulare Theorie der Materie zu begründen und die antike Atomenlehre wieder zu verwerten. Aber die Zeit dazu war noch nicht gekommen.
Zunächst war das Interesse der Zeit noch ein ausschließlich theologisches und die Kirche so übermächtig bestimmend für alles geistige Leben, daß eine wirksame Behandlung physikalischer Probleme nicht aufkommen konnte. Die autoritative Gewalt der Kirchenväter, welche sich gegen die Physik überhaupt, namentlich aber gegen jeden atomistischen Anklang gerichtet hatte, hält das Denken gefesselt. Selbständige Ansichten zu haben macht schon verdächtig, und wer etwas Eigenes publi- zieren will, legt es einer fremden Person in den Mund, wie Adelard den Arabern, indem er sich zugleich über diesen Fehler seiner Zeit bitter beklagt.2
Ehe die Theorie des Körpers weitere Fortschritte machen konnte, mußte erst das naturwissenschaftliche Interesse wieder geweckt werden. Es geschah dies durch das Bekanntwerden der empirischen naturwissenschaftlichen Kenntnisse der Araber im Abendlande. Wir sehen, wie sogleich im ersten Beginn dieser Einwirkung arabischen Wissens das physikalische Interesse steigt, und wie es sofort sich in der Form der Korpuskular- theorie äußert, wo das Nachdenken sich auf das Problem des Körpers richtet. Zu einer fruchtbaren Ausbildung dieser
1 Bei Xaver Pfeifer, Die Controverse über das Beharren der Elemente in den Verbindungen von Aristoteles bis zur Gegenwart (Dillingen 1879. S. 81) fehlt die Kenntnis dieses Zusammenhangs.
2 S. Jourdain a. a. O. S. 259.
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[78/0096]
Wiederverschwinden der Korpuskulartheorie.
Das sind in der That Grundsätze physikalischer Forschung,
deren Erkenntnis zu jener Zeit ebenso überrascht, wie sie vor-
läufig für die Entwickelung der Körperlehre unfruchtbar bleiben
mußten. Ihr Auftreten bei Hugo von St. Victor erklärt sich
hier im Zusammenhange mit den im Anfang des 12. Jahr-
hunderts sich regenden Einflüssen der antiken Wissenschaft. 1
10. Die Korpuskulartheorie verschwindet wieder.
Die hier zusammengestellten Ansichten aus dem Dialog
De generibus et speciebus, aus Adelard von Bath, Wilhelm von
Conches und Hugo von St. Victor wären wohl geeignet gewesen,
eine korpuskulare Theorie der Materie zu begründen und die
antike Atomenlehre wieder zu verwerten. Aber die Zeit dazu
war noch nicht gekommen.
Zunächst war das Interesse der Zeit noch ein ausschließlich
theologisches und die Kirche so übermächtig bestimmend für
alles geistige Leben, daß eine wirksame Behandlung physikalischer
Probleme nicht aufkommen konnte. Die autoritative Gewalt
der Kirchenväter, welche sich gegen die Physik überhaupt,
namentlich aber gegen jeden atomistischen Anklang gerichtet
hatte, hält das Denken gefesselt. Selbständige Ansichten zu
haben macht schon verdächtig, und wer etwas Eigenes publi-
zieren will, legt es einer fremden Person in den Mund, wie
Adelard den Arabern, indem er sich zugleich über diesen Fehler
seiner Zeit bitter beklagt. 2
Ehe die Theorie des Körpers weitere Fortschritte machen
konnte, mußte erst das naturwissenschaftliche Interesse wieder
geweckt werden. Es geschah dies durch das Bekanntwerden
der empirischen naturwissenschaftlichen Kenntnisse der Araber
im Abendlande. Wir sehen, wie sogleich im ersten Beginn
dieser Einwirkung arabischen Wissens das physikalische Interesse
steigt, und wie es sofort sich in der Form der Korpuskular-
theorie äußert, wo das Nachdenken sich auf das Problem
des Körpers richtet. Zu einer fruchtbaren Ausbildung dieser
1 Bei Xaver Pfeifer, Die Controverse über das Beharren der Elemente in
den Verbindungen von Aristoteles bis zur Gegenwart (Dillingen 1879. S. 81)
fehlt die Kenntnis dieses Zusammenhangs.
2 S. Jourdain a. a. O. S. 259.
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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/96>, abgerufen am 25.11.2024.
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