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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Hugo von St. Victor: Veränderung und Sein.
sinnlichen Welt tief unter derjenigen des geistigen Prinzips
der Dinge, die wir aus der Versenkung in das eigene Innere
schöpfen. Trotz dieser dem Mysticismus eigenen Verachtung
wissenschaftlicher Forschung sind seine physikalischen Unter-
suchungen bemerkenswert, weil er Werden und Vergehen als
bloß wechselnde Verbindung eines Beharrenden auffaßt.

Die Physik ist nach ihm die einzige Wissenschaft, welche
sich mit den Dingen selbst beschäftigt, und zwar mit den-
jenigen Dingen, welche im Gegensatz zu Gott und den
himmlischen Wesen Anfang und Ende haben und veränderlich
sind. Sie untersucht die vielfach gemischten Wirkungen der
Dinge in ihrer Reinheit, indem sie durch ein Verfahren der
Abstraction die Wirkungsart der Dinge aus ihrer Komplikation
loslöst und für sich betrachtet. Aus dieser Sonderung des
Wesens eines jeden Elementes gewinnt sie ein Urteil über die
Entstehung und Wirksamkeit des Ganzen.1

Die Veränderlichkeit der Dinge bezieht sich nicht auf
ihr Wesen, sondern nur auf den Wechsel ihrer Formen. Auch
die Form geht nicht eigentlich unter, sondern nur über, d. h.,
wenn ein Ding gänzlich zu vergehen und seine Existenz zu
verlieren scheint, so erleidet es im Grunde nur eine Veränderung.
Verbundenes scheidet sich, Getrenntes wird vereinigt; was hier
war, geht dort hin, was jetzt war, tritt dann hervor. Überall
giebt es nur örtliche und zeitliche Veränderungen, bei denen
das Sein der Dinge beharrt.2 Aus nichts entsteht nichts, und
nichts kann in ein Nichts verwandelt werden; jede Natur hat
ihre anfängliche Ursache und ihren ewigen Bestand.

1 Didascalon Libri septem. Venetiis 1506. (Erste Ausgabe). Lib. II c. 18.
f. 124 links: Physicae autem est proprium actus rerum permixtos impermixte
attendere. Actus enim corporum mundi non sunt puri, sed compositi ab actibus
purorum, quos physica, cum per se non inveniantur, pure tarnen et per se
considerat; purum scilicet actum ignis, sive terrae, sive aeris, sive aquae; et
ex natura uniuscujusque per se considerata de concretione et efficientia totius
judicat.
2 A. a. O. f. 121 links: Non enim essentiae rerum transeunt, sed formaes
Cum forma transire dicitur, non sic intelligendum est, ut aliqua res existen
perire omnino et esse suum amittere credatur, sed variari potius; vel sic for-
tassis, ut quae juncta fuerant, ob invicem separentur; vel quae separata erant,
conjungantur; vel quae hic erant, illuc transeant; vel quae nunc erant, tunc
subsistant; in quibus omnibus esse rerum nihil detrimenti patitur.

Hugo von St. Victor: Veränderung und Sein.
sinnlichen Welt tief unter derjenigen des geistigen Prinzips
der Dinge, die wir aus der Versenkung in das eigene Innere
schöpfen. Trotz dieser dem Mysticismus eigenen Verachtung
wissenschaftlicher Forschung sind seine physikalischen Unter-
suchungen bemerkenswert, weil er Werden und Vergehen als
bloß wechselnde Verbindung eines Beharrenden auffaßt.

Die Physik ist nach ihm die einzige Wissenschaft, welche
sich mit den Dingen selbst beschäftigt, und zwar mit den-
jenigen Dingen, welche im Gegensatz zu Gott und den
himmlischen Wesen Anfang und Ende haben und veränderlich
sind. Sie untersucht die vielfach gemischten Wirkungen der
Dinge in ihrer Reinheit, indem sie durch ein Verfahren der
Abstraction die Wirkungsart der Dinge aus ihrer Komplikation
loslöst und für sich betrachtet. Aus dieser Sonderung des
Wesens eines jeden Elementes gewinnt sie ein Urteil über die
Entstehung und Wirksamkeit des Ganzen.1

Die Veränderlichkeit der Dinge bezieht sich nicht auf
ihr Wesen, sondern nur auf den Wechsel ihrer Formen. Auch
die Form geht nicht eigentlich unter, sondern nur über, d. h.,
wenn ein Ding gänzlich zu vergehen und seine Existenz zu
verlieren scheint, so erleidet es im Grunde nur eine Veränderung.
Verbundenes scheidet sich, Getrenntes wird vereinigt; was hier
war, geht dort hin, was jetzt war, tritt dann hervor. Überall
giebt es nur örtliche und zeitliche Veränderungen, bei denen
das Sein der Dinge beharrt.2 Aus nichts entsteht nichts, und
nichts kann in ein Nichts verwandelt werden; jede Natur hat
ihre anfängliche Ursache und ihren ewigen Bestand.

1 Didascalon Libri septem. Venetiis 1506. (Erste Ausgabe). Lib. II c. 18.
f. 124 links: Physicae autem est proprium actus rerum permixtos impermixte
attendere. Actus enim corporum mundi non sunt puri, sed compositi ab actibus
purorum, quos physica, cum per se non inveniantur, pure tarnen et per se
considerat; purum scilicet actum ignis, sive terrae, sive aeris, sive aquae; et
ex natura uniuscujusque per se considerata de concretione et efficientia totius
judicat.
2 A. a. O. f. 121 links: Non enim essentiae rerum transeunt, sed formaes
Cum forma transire dicitur, non sic intelligendum est, ut aliqua res existen
perire omnino et esse suum amittere credatur, sed variari potius; vel sic for-
tassis, ut quae juncta fuerant, ob invicem separentur; vel quae separata erant,
conjungantur; vel quae hic erant, illuc transeant; vel quae nunc erant, tunc
subsistant; in quibus omnibus esse rerum nihil detrimenti patitur.
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[77/0095] Hugo von St. Victor: Veränderung und Sein. sinnlichen Welt tief unter derjenigen des geistigen Prinzips der Dinge, die wir aus der Versenkung in das eigene Innere schöpfen. Trotz dieser dem Mysticismus eigenen Verachtung wissenschaftlicher Forschung sind seine physikalischen Unter- suchungen bemerkenswert, weil er Werden und Vergehen als bloß wechselnde Verbindung eines Beharrenden auffaßt. Die Physik ist nach ihm die einzige Wissenschaft, welche sich mit den Dingen selbst beschäftigt, und zwar mit den- jenigen Dingen, welche im Gegensatz zu Gott und den himmlischen Wesen Anfang und Ende haben und veränderlich sind. Sie untersucht die vielfach gemischten Wirkungen der Dinge in ihrer Reinheit, indem sie durch ein Verfahren der Abstraction die Wirkungsart der Dinge aus ihrer Komplikation loslöst und für sich betrachtet. Aus dieser Sonderung des Wesens eines jeden Elementes gewinnt sie ein Urteil über die Entstehung und Wirksamkeit des Ganzen. 1 Die Veränderlichkeit der Dinge bezieht sich nicht auf ihr Wesen, sondern nur auf den Wechsel ihrer Formen. Auch die Form geht nicht eigentlich unter, sondern nur über, d. h., wenn ein Ding gänzlich zu vergehen und seine Existenz zu verlieren scheint, so erleidet es im Grunde nur eine Veränderung. Verbundenes scheidet sich, Getrenntes wird vereinigt; was hier war, geht dort hin, was jetzt war, tritt dann hervor. Überall giebt es nur örtliche und zeitliche Veränderungen, bei denen das Sein der Dinge beharrt. 2 Aus nichts entsteht nichts, und nichts kann in ein Nichts verwandelt werden; jede Natur hat ihre anfängliche Ursache und ihren ewigen Bestand. 1 Didascalon Libri septem. Venetiis 1506. (Erste Ausgabe). Lib. II c. 18. f. 124 links: Physicae autem est proprium actus rerum permixtos impermixte attendere. Actus enim corporum mundi non sunt puri, sed compositi ab actibus purorum, quos physica, cum per se non inveniantur, pure tarnen et per se considerat; purum scilicet actum ignis, sive terrae, sive aeris, sive aquae; et ex natura uniuscujusque per se considerata de concretione et efficientia totius judicat. 2 A. a. O. f. 121 links: Non enim essentiae rerum transeunt, sed formaes Cum forma transire dicitur, non sic intelligendum est, ut aliqua res existen perire omnino et esse suum amittere credatur, sed variari potius; vel sic for- tassis, ut quae juncta fuerant, ob invicem separentur; vel quae separata erant, conjungantur; vel quae hic erant, illuc transeant; vel quae nunc erant, tunc subsistant; in quibus omnibus esse rerum nihil detrimenti patitur.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/95>, abgerufen am 22.11.2024.