täten aufgefaßt werden mußten. Das Trinitätsdogma der Tradition entschied, nicht das Interesse der selbständigen Forschung.
Aber schon vor dem Bekanntwerden des reineren Aristote- lismus zeigen sich bei einigen, besonders unter platonischem Einflusse stehenden Denkern, die Spuren korpuskulartheoreti- scher Anschauungen, welche die notwendigen Folgen der Übertragung der Realität auf die Einzelwesen sind.
Die dialektische Untersuchung führt auf physikalische Fragen, sobald der Versuch auftritt, zwischen den entgegen- gesetzten Meinungen gleichwertiger Autoritäten durch eigenes Nachdenken und selbständige Besinnung auf die eigene Er- fahrung des Lebens zu entscheiden. Der spekulierende Mönch mag den bunten Schimmer der Körperwelt verachten, aber die Nächstenliebe fordert die Pflege des Verwundeten und Kranken und leitet im Interesse der Heilkunde zur Betrachtung der organischen Gliederung des menschlichen Körpers, im Kloster- garten wachsen heilkräftige Kräuter, überall weben im ge- heimen thätig die Kräfte der Natur, in Keller und Konfekto- rium gären und destillieren würzige Säfte, die Metalle schmel- zen im Tiegel, alltägliche Operationen weisen auf Verbindung und Auflösung, Werden und Vergehen der Körper. Was ist es, das sich hier verändert? Was behält seine Realität, in wie- weit haften unveränderliche Eigenschaften an der Substanz des Körpers? Wenn Aristoteles den Platon befehdet und mit jenem der gemäßigte Realismus in den Einzeldingen die all- gemeinen Eigenschaften als real erkennt, so mag der Bruder Kellermeister immer den Wein mit Wasser verdünnen, Süßig- keit, Duft und Stärke können ja doch in ihrer Realität nicht davon berührt werden. Aber die Zunge straft die Dialektik Lügen. Also muß es, soll der Realismus Recht behalten, doch nicht der Wein als Ganzes sein, in welchem die Süßigkeit real ist, sondern diese Realität der Süße muß an jedem einzelnen Teilchen des Weines haften; denn nur dann wird erklärlich, daß die geringere Menge der Weinteilchen unter die Wasser- teilchen gemischt die geringere Süßigkeit zeigt. Sind die wahrnehmbaren Körper die letzten Einzeldinge, in denen die allgemeinen Eigenschaften real existieren, so werden ihre Ver- änderungen unverständlich. Vielmehr muß alsdann die Teilung
Realismus und Empirie.
täten aufgefaßt werden mußten. Das Trinitätsdogma der Tradition entschied, nicht das Interesse der selbständigen Forschung.
Aber schon vor dem Bekanntwerden des reineren Aristote- lismus zeigen sich bei einigen, besonders unter platonischem Einflusse stehenden Denkern, die Spuren korpuskulartheoreti- scher Anschauungen, welche die notwendigen Folgen der Übertragung der Realität auf die Einzelwesen sind.
Die dialektische Untersuchung führt auf physikalische Fragen, sobald der Versuch auftritt, zwischen den entgegen- gesetzten Meinungen gleichwertiger Autoritäten durch eigenes Nachdenken und selbständige Besinnung auf die eigene Er- fahrung des Lebens zu entscheiden. Der spekulierende Mönch mag den bunten Schimmer der Körperwelt verachten, aber die Nächstenliebe fordert die Pflege des Verwundeten und Kranken und leitet im Interesse der Heilkunde zur Betrachtung der organischen Gliederung des menschlichen Körpers, im Kloster- garten wachsen heilkräftige Kräuter, überall weben im ge- heimen thätig die Kräfte der Natur, in Keller und Konfekto- rium gären und destillieren würzige Säfte, die Metalle schmel- zen im Tiegel, alltägliche Operationen weisen auf Verbindung und Auflösung, Werden und Vergehen der Körper. Was ist es, das sich hier verändert? Was behält seine Realität, in wie- weit haften unveränderliche Eigenschaften an der Substanz des Körpers? Wenn Aristoteles den Platon befehdet und mit jenem der gemäßigte Realismus in den Einzeldingen die all- gemeinen Eigenschaften als real erkennt, so mag der Bruder Kellermeister immer den Wein mit Wasser verdünnen, Süßig- keit, Duft und Stärke können ja doch in ihrer Realität nicht davon berührt werden. Aber die Zunge straft die Dialektik Lügen. Also muß es, soll der Realismus Recht behalten, doch nicht der Wein als Ganzes sein, in welchem die Süßigkeit real ist, sondern diese Realität der Süße muß an jedem einzelnen Teilchen des Weines haften; denn nur dann wird erklärlich, daß die geringere Menge der Weinteilchen unter die Wasser- teilchen gemischt die geringere Süßigkeit zeigt. Sind die wahrnehmbaren Körper die letzten Einzeldinge, in denen die allgemeinen Eigenschaften real existieren, so werden ihre Ver- änderungen unverständlich. Vielmehr muß alsdann die Teilung
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Realismus und Empirie.
täten aufgefaßt werden mußten. Das Trinitätsdogma der
Tradition entschied, nicht das Interesse der selbständigen
Forschung.
Aber schon vor dem Bekanntwerden des reineren Aristote-
lismus zeigen sich bei einigen, besonders unter platonischem
Einflusse stehenden Denkern, die Spuren korpuskulartheoreti-
scher Anschauungen, welche die notwendigen Folgen der
Übertragung der Realität auf die Einzelwesen sind.
Die dialektische Untersuchung führt auf physikalische
Fragen, sobald der Versuch auftritt, zwischen den entgegen-
gesetzten Meinungen gleichwertiger Autoritäten durch eigenes
Nachdenken und selbständige Besinnung auf die eigene Er-
fahrung des Lebens zu entscheiden. Der spekulierende Mönch
mag den bunten Schimmer der Körperwelt verachten, aber die
Nächstenliebe fordert die Pflege des Verwundeten und Kranken
und leitet im Interesse der Heilkunde zur Betrachtung der
organischen Gliederung des menschlichen Körpers, im Kloster-
garten wachsen heilkräftige Kräuter, überall weben im ge-
heimen thätig die Kräfte der Natur, in Keller und Konfekto-
rium gären und destillieren würzige Säfte, die Metalle schmel-
zen im Tiegel, alltägliche Operationen weisen auf Verbindung
und Auflösung, Werden und Vergehen der Körper. Was ist
es, das sich hier verändert? Was behält seine Realität, in wie-
weit haften unveränderliche Eigenschaften an der Substanz des
Körpers? Wenn Aristoteles den Platon befehdet und mit
jenem der gemäßigte Realismus in den Einzeldingen die all-
gemeinen Eigenschaften als real erkennt, so mag der Bruder
Kellermeister immer den Wein mit Wasser verdünnen, Süßig-
keit, Duft und Stärke können ja doch in ihrer Realität nicht
davon berührt werden. Aber die Zunge straft die Dialektik
Lügen. Also muß es, soll der Realismus Recht behalten, doch
nicht der Wein als Ganzes sein, in welchem die Süßigkeit real
ist, sondern diese Realität der Süße muß an jedem einzelnen
Teilchen des Weines haften; denn nur dann wird erklärlich,
daß die geringere Menge der Weinteilchen unter die Wasser-
teilchen gemischt die geringere Süßigkeit zeigt. Sind die
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allgemeinen Eigenschaften real existieren, so werden ihre Ver-
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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/77>, abgerufen am 22.11.2024.
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