Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite

Gegengewicht gegen den Sensualismus.
Dies ist die Folge der alleinigen Anwendung des Denkmittels
der Substanzialität, wodurch die Möglichkeit einer Objektivierung
der Empfindung, des wechselnden Inhalts des Bewußtseins,
ausgeschlossen wird.

Sieht man von diesem systematischen Grundmangel ab, so
bleiben als wertvolle Bestandteile für die Theorie der Materie
bei diesem Vorboten des scholastischen Realismus seine Fest-
setzungen über die allein im Denken gegebenen Realitäten des
Körperlichen. Die Abscheidung von der Sinnlichkeit ist in
ihrer Einseitigkeit eine notwendige Vorstufe tieferer Erkennt-
nis. Die Abstraktion muß uns die Gewißheit geben, daß die
Realität des Körperlichen durch das Denken verbürgt ist; das
ist das notwendige Gegengewicht gegen die Einseitigkeit des
Sensualismus.

Die korpuskulare Theorie der Materie hat hier keine Stätte.
Aber sobald das physikalische Interesse erwacht und das
Denken die Körperwelt wieder in den Kreis seiner Thätigkeit
zieht, findet es in den real existierenden Begriffen des schola-
stischen Realismus eine Handhabe, auch dem Einzelkörper
Selbständigkeit zu verleihen und damit den steten Antrieb, den
Realismus wieder aufzuheben zu Gunsten des Nominalismus.

4. Realismus und Nominalismus.

Wie von einem fernen blühenden Lande durch heimkehrende
Reisende eine Nachricht vermittelt wird von ungekannter Fülle
des Lebens und nun Veranlassung gibt zum gelehrten Streite
über die Wahrheit des Gesehenen, so kam von den reichhal-
tigen philosophischen Untersuchungen des Altertums über den
Realitätswert der Begriffe und Dinge eine kurze Andeutung
durch die Isagoge des Porphyrius,1 welche Boethius ins La-
teinische übersetzt hatte, zum Mittelalter herüber und weckte
den Streit des Realismus und Nominalismus. Die platonische
Ansicht in der von Aristoteles mißdeuteten Form, daß die
allgemeinen Begriffe reale Existenz besitzen, wurde von späteren
Scholastikern in der Formel Universalia ante rem auf den

1 S. Victor Cousin, Ouvrages inedits d'Abelard, Paris 1836, p. LXVI ff.,
und Überweg-Heinze, II. S. 141.

Gegengewicht gegen den Sensualismus.
Dies ist die Folge der alleinigen Anwendung des Denkmittels
der Substanzialität, wodurch die Möglichkeit einer Objektivierung
der Empfindung, des wechselnden Inhalts des Bewußtseins,
ausgeschlossen wird.

Sieht man von diesem systematischen Grundmangel ab, so
bleiben als wertvolle Bestandteile für die Theorie der Materie
bei diesem Vorboten des scholastischen Realismus seine Fest-
setzungen über die allein im Denken gegebenen Realitäten des
Körperlichen. Die Abscheidung von der Sinnlichkeit ist in
ihrer Einseitigkeit eine notwendige Vorstufe tieferer Erkennt-
nis. Die Abstraktion muß uns die Gewißheit geben, daß die
Realität des Körperlichen durch das Denken verbürgt ist; das
ist das notwendige Gegengewicht gegen die Einseitigkeit des
Sensualismus.

Die korpuskulare Theorie der Materie hat hier keine Stätte.
Aber sobald das physikalische Interesse erwacht und das
Denken die Körperwelt wieder in den Kreis seiner Thätigkeit
zieht, findet es in den real existierenden Begriffen des schola-
stischen Realismus eine Handhabe, auch dem Einzelkörper
Selbständigkeit zu verleihen und damit den steten Antrieb, den
Realismus wieder aufzuheben zu Gunsten des Nominalismus.

4. Realismus und Nominalismus.

Wie von einem fernen blühenden Lande durch heimkehrende
Reisende eine Nachricht vermittelt wird von ungekannter Fülle
des Lebens und nun Veranlassung gibt zum gelehrten Streite
über die Wahrheit des Gesehenen, so kam von den reichhal-
tigen philosophischen Untersuchungen des Altertums über den
Realitätswert der Begriffe und Dinge eine kurze Andeutung
durch die Isagoge des Porphyrius,1 welche Boethius ins La-
teinische übersetzt hatte, zum Mittelalter herüber und weckte
den Streit des Realismus und Nominalismus. Die platonische
Ansicht in der von Aristoteles mißdeuteten Form, daß die
allgemeinen Begriffe reale Existenz besitzen, wurde von späteren
Scholastikern in der Formel Universalia ante rem auf den

1 S. Victor Cousin, Ouvrages inédits d’Abélard, Paris 1836, p. LXVI ff.,
und Überweg-Heinze, II. S. 141.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0075" n="57"/><fw place="top" type="header">Gegengewicht gegen den Sensualismus.</fw><lb/>
Dies ist die Folge der alleinigen Anwendung des Denkmittels<lb/>
der Substanzialität, wodurch die Möglichkeit einer Objektivierung<lb/>
der Empfindung, des wechselnden Inhalts des Bewußtseins,<lb/>
ausgeschlossen wird.</p><lb/>
            <p>Sieht man von diesem systematischen Grundmangel ab, so<lb/>
bleiben als wertvolle Bestandteile für die Theorie der Materie<lb/>
bei diesem Vorboten des scholastischen Realismus seine Fest-<lb/>
setzungen über die allein im Denken gegebenen Realitäten des<lb/>
Körperlichen. Die Abscheidung von der Sinnlichkeit ist in<lb/>
ihrer Einseitigkeit eine notwendige Vorstufe tieferer Erkennt-<lb/>
nis. Die Abstraktion muß uns die Gewißheit geben, daß die<lb/>
Realität des Körperlichen durch das Denken verbürgt ist; das<lb/>
ist das notwendige Gegengewicht gegen die Einseitigkeit des<lb/>
Sensualismus.</p><lb/>
            <p>Die korpuskulare Theorie der Materie hat hier keine Stätte.<lb/>
Aber sobald das physikalische Interesse erwacht und das<lb/>
Denken die Körperwelt wieder in den Kreis seiner Thätigkeit<lb/>
zieht, findet es in den real existierenden Begriffen des schola-<lb/>
stischen Realismus eine Handhabe, auch dem Einzelkörper<lb/>
Selbständigkeit zu verleihen und damit den steten Antrieb, den<lb/>
Realismus wieder aufzuheben zu Gunsten des Nominalismus.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">4. Realismus und Nominalismus.</hi> </head><lb/>
            <p>Wie von einem fernen blühenden Lande durch heimkehrende<lb/>
Reisende eine Nachricht vermittelt wird von ungekannter Fülle<lb/>
des Lebens und nun Veranlassung gibt zum gelehrten Streite<lb/>
über die Wahrheit des Gesehenen, so kam von den reichhal-<lb/>
tigen philosophischen Untersuchungen des Altertums über den<lb/>
Realitätswert der Begriffe und Dinge eine kurze Andeutung<lb/>
durch die <hi rendition="#i">Isagoge</hi> des <hi rendition="#k">Porphyrius</hi>,<note place="foot" n="1">S. <hi rendition="#k">Victor Cousin</hi>, <hi rendition="#i">Ouvrages inédits d&#x2019;Abélard</hi>, Paris 1836, p. LXVI ff.,<lb/>
und <hi rendition="#k">Überweg-Heinze</hi>, II. S. 141.</note> welche <hi rendition="#k">Boethius</hi> ins La-<lb/>
teinische übersetzt hatte, zum Mittelalter herüber und weckte<lb/>
den Streit des Realismus und Nominalismus. Die platonische<lb/>
Ansicht in der von <hi rendition="#k">Aristoteles</hi> mißdeuteten Form, daß die<lb/>
allgemeinen Begriffe reale Existenz besitzen, wurde von späteren<lb/>
Scholastikern in der Formel <hi rendition="#i">Universalia ante rem</hi> auf den<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[57/0075] Gegengewicht gegen den Sensualismus. Dies ist die Folge der alleinigen Anwendung des Denkmittels der Substanzialität, wodurch die Möglichkeit einer Objektivierung der Empfindung, des wechselnden Inhalts des Bewußtseins, ausgeschlossen wird. Sieht man von diesem systematischen Grundmangel ab, so bleiben als wertvolle Bestandteile für die Theorie der Materie bei diesem Vorboten des scholastischen Realismus seine Fest- setzungen über die allein im Denken gegebenen Realitäten des Körperlichen. Die Abscheidung von der Sinnlichkeit ist in ihrer Einseitigkeit eine notwendige Vorstufe tieferer Erkennt- nis. Die Abstraktion muß uns die Gewißheit geben, daß die Realität des Körperlichen durch das Denken verbürgt ist; das ist das notwendige Gegengewicht gegen die Einseitigkeit des Sensualismus. Die korpuskulare Theorie der Materie hat hier keine Stätte. Aber sobald das physikalische Interesse erwacht und das Denken die Körperwelt wieder in den Kreis seiner Thätigkeit zieht, findet es in den real existierenden Begriffen des schola- stischen Realismus eine Handhabe, auch dem Einzelkörper Selbständigkeit zu verleihen und damit den steten Antrieb, den Realismus wieder aufzuheben zu Gunsten des Nominalismus. 4. Realismus und Nominalismus. Wie von einem fernen blühenden Lande durch heimkehrende Reisende eine Nachricht vermittelt wird von ungekannter Fülle des Lebens und nun Veranlassung gibt zum gelehrten Streite über die Wahrheit des Gesehenen, so kam von den reichhal- tigen philosophischen Untersuchungen des Altertums über den Realitätswert der Begriffe und Dinge eine kurze Andeutung durch die Isagoge des Porphyrius, 1 welche Boethius ins La- teinische übersetzt hatte, zum Mittelalter herüber und weckte den Streit des Realismus und Nominalismus. Die platonische Ansicht in der von Aristoteles mißdeuteten Form, daß die allgemeinen Begriffe reale Existenz besitzen, wurde von späteren Scholastikern in der Formel Universalia ante rem auf den 1 S. Victor Cousin, Ouvrages inédits d’Abélard, Paris 1836, p. LXVI ff., und Überweg-Heinze, II. S. 141.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/75
Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/75>, abgerufen am 24.11.2024.