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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Berigard und Magnenus.
land und Frankreich ein Vierteljahrhundert früher erschienenen
korpuskulartheoretischen Schriften zu vergleichen und daher in
jene vorbereitende Periode zu rechnen sind. Aus diesem Grunde
finden sie an dieser Stelle ihre Darstellung, während Galilei,
dessen wissenschaftliche Wirksamkeit der Zeit nach jenen
Korpuskulartheoretikern vorangeht, erst nach ihnen, an der
Spitze derer genannt werden soll, die in voller Selbständigkeit
die Epoche der modernen Physik eingeleitet haben und die
Schöpfer der Naturwissenschaft geworden sind. Die Verspätung
der Korpuskulartheorie in Italien erklärt sich wohl zum Teil
äußerlich durch den Druck der Inquisition. Übrigens schließen
sich die Versuche von Berigard und Magnenus vollständig in
den Rahmen jener physikalischen Hypothesen, deren Aufstel-
lung und Durchbildung das Problem des Körpers nach der
einen Seite hin seiner Lösung entgegenführte. Der Genius
eines Galilei wirkte nach einer andern Seite hin zu gleichem
Ziele.

Claude Gillermet Herr von Berigard ist ein geborener
Franzose (1578 zu Moulins, nach andern 1591), der, in Paris
lebend und lehrend, dort von dem reformatorisch-wissenschaft-
lichen Geiste, welcher die Jahre 1620--24 auszeichnet, durch-
drungen wurde, aber infolge seiner Berufung nach Pisa (1628)
und zwölf Jahre später1 nach Padua sich genötigt sah, seine
von Aristoteles abweichenden Meinungen nur mit der größten
Vorsicht zu entwickeln. Er starb 1663 zu Padua.2 Sein Haupt-
werk3 ist, sichtlich nach dem Vorbilde Galileis,4 in Gesprächs-
form geschrieben, wodurch er in weiser Vorsicht den Vorteil
zu erreichen suchte, daß er nicht selbst für die ausgesprochenen
antiperipatetischen Lehrmeinungen verantwortlich gemacht wer-

1 Circ. Pis. Dedicat. Vgl. Brucker, Hist. crit. phil. IV, p. 467.
2 Vgl. über Berigard: Tennemann X S. 175 ff.
3 Circulus Pisanus Claudii Berigardi Molinensis De veteri et Peripatetica
Philosophia.
Utini 1643. Es sind vier Werke, welche diesen Titel führen,
unterschieden durch die Zusätze "in priores libros Phys. Arist." "in octavum
l. Phys. Arist." "in Ar. libros de coelo", Utini 1647 (die Widmung ist jedoch
ebenfalls vom 1. Januar 1643 datiert und das Werk mit den übrigen als gleich-
zeitig anzusehen) und "in lib. de Ortu et interitu", Utini 1643.
4 Gegen den er früher herausgab: Dubitationes in dialogos Galilaei pro
terrae immobilitate.
Utini 1632.

Berigard und Magnenus.
land und Frankreich ein Vierteljahrhundert früher erschienenen
korpuskulartheoretischen Schriften zu vergleichen und daher in
jene vorbereitende Periode zu rechnen sind. Aus diesem Grunde
finden sie an dieser Stelle ihre Darstellung, während Galilei,
dessen wissenschaftliche Wirksamkeit der Zeit nach jenen
Korpuskulartheoretikern vorangeht, erst nach ihnen, an der
Spitze derer genannt werden soll, die in voller Selbständigkeit
die Epoche der modernen Physik eingeleitet haben und die
Schöpfer der Naturwissenschaft geworden sind. Die Verspätung
der Korpuskulartheorie in Italien erklärt sich wohl zum Teil
äußerlich durch den Druck der Inquisition. Übrigens schließen
sich die Versuche von Berigard und Magnenus vollständig in
den Rahmen jener physikalischen Hypothesen, deren Aufstel-
lung und Durchbildung das Problem des Körpers nach der
einen Seite hin seiner Lösung entgegenführte. Der Genius
eines Galilei wirkte nach einer andern Seite hin zu gleichem
Ziele.

Claude Gillermet Herr von Berigard ist ein geborener
Franzose (1578 zu Moulins, nach andern 1591), der, in Paris
lebend und lehrend, dort von dem reformatorisch-wissenschaft-
lichen Geiste, welcher die Jahre 1620—24 auszeichnet, durch-
drungen wurde, aber infolge seiner Berufung nach Pisa (1628)
und zwölf Jahre später1 nach Padua sich genötigt sah, seine
von Aristoteles abweichenden Meinungen nur mit der größten
Vorsicht zu entwickeln. Er starb 1663 zu Padua.2 Sein Haupt-
werk3 ist, sichtlich nach dem Vorbilde Galileis,4 in Gesprächs-
form geschrieben, wodurch er in weiser Vorsicht den Vorteil
zu erreichen suchte, daß er nicht selbst für die ausgesprochenen
antiperipatetischen Lehrmeinungen verantwortlich gemacht wer-

1 Circ. Pis. Dedicat. Vgl. Brucker, Hist. crit. phil. IV, p. 467.
2 Vgl. über Berigard: Tennemann X S. 175 ff.
3 Circulus Pisanus Claudii Berigardi Molinensis De veteri et Peripatetica
Philosophia.
Utini 1643. Es sind vier Werke, welche diesen Titel führen,
unterschieden durch die Zusätze „in priores libros Phys. Arist.‟ „in octavum
l. Phys. Arist.‟ „in Ar. libros de coelo‟, Utini 1647 (die Widmung ist jedoch
ebenfalls vom 1. Januar 1643 datiert und das Werk mit den übrigen als gleich-
zeitig anzusehen) und „in lib. de Ortu et interitu‟, Utini 1643.
4 Gegen den er früher herausgab: Dubitationes in dialogos Galilaei pro
terrae immobilitate.
Utini 1632.
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[488/0506] Berigard und Magnenus. land und Frankreich ein Vierteljahrhundert früher erschienenen korpuskulartheoretischen Schriften zu vergleichen und daher in jene vorbereitende Periode zu rechnen sind. Aus diesem Grunde finden sie an dieser Stelle ihre Darstellung, während Galilei, dessen wissenschaftliche Wirksamkeit der Zeit nach jenen Korpuskulartheoretikern vorangeht, erst nach ihnen, an der Spitze derer genannt werden soll, die in voller Selbständigkeit die Epoche der modernen Physik eingeleitet haben und die Schöpfer der Naturwissenschaft geworden sind. Die Verspätung der Korpuskulartheorie in Italien erklärt sich wohl zum Teil äußerlich durch den Druck der Inquisition. Übrigens schließen sich die Versuche von Berigard und Magnenus vollständig in den Rahmen jener physikalischen Hypothesen, deren Aufstel- lung und Durchbildung das Problem des Körpers nach der einen Seite hin seiner Lösung entgegenführte. Der Genius eines Galilei wirkte nach einer andern Seite hin zu gleichem Ziele. Claude Gillermet Herr von Berigard ist ein geborener Franzose (1578 zu Moulins, nach andern 1591), der, in Paris lebend und lehrend, dort von dem reformatorisch-wissenschaft- lichen Geiste, welcher die Jahre 1620—24 auszeichnet, durch- drungen wurde, aber infolge seiner Berufung nach Pisa (1628) und zwölf Jahre später 1 nach Padua sich genötigt sah, seine von Aristoteles abweichenden Meinungen nur mit der größten Vorsicht zu entwickeln. Er starb 1663 zu Padua. 2 Sein Haupt- werk 3 ist, sichtlich nach dem Vorbilde Galileis, 4 in Gesprächs- form geschrieben, wodurch er in weiser Vorsicht den Vorteil zu erreichen suchte, daß er nicht selbst für die ausgesprochenen antiperipatetischen Lehrmeinungen verantwortlich gemacht wer- 1 Circ. Pis. Dedicat. Vgl. Brucker, Hist. crit. phil. IV, p. 467. 2 Vgl. über Berigard: Tennemann X S. 175 ff. 3 Circulus Pisanus Claudii Berigardi Molinensis De veteri et Peripatetica Philosophia. Utini 1643. Es sind vier Werke, welche diesen Titel führen, unterschieden durch die Zusätze „in priores libros Phys. Arist.‟ „in octavum l. Phys. Arist.‟ „in Ar. libros de coelo‟, Utini 1647 (die Widmung ist jedoch ebenfalls vom 1. Januar 1643 datiert und das Werk mit den übrigen als gleich- zeitig anzusehen) und „in lib. de Ortu et interitu‟, Utini 1643. 4 Gegen den er früher herausgab: Dubitationes in dialogos Galilaei pro terrae immobilitate. Utini 1632.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 488. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/506>, abgerufen am 23.11.2024.