Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.Sennert: Autorität und Wirkungsweise. nerts Ansehen war, wie aus den Zeugnissen seiner Zeitgenossenhervorgeht,1 ein außerordentliches. Hochgeachtet wegen der Festigkeit seines Charakters, beliebt wegen der Milde seiner Gesinnung, weitbekannt als Lehrer und Gelehrter und weltbe- rühmt durch seine Geschicklichkeit als Arzt besaß er eine ge- wichtige Autorität. Wenn ein solcher Mann eine unbeachtete oder als verboten angesehene Lehre anerkennend besprach, so durfte der ruhige und vorsichtige Freund behutsam vorschrei- tender Wissenschaft die Prüfung nicht abweisen; so trat das Neue mit trefflicher Empfehlung in die akademischen Kreise, und die Aufmerksamkeit des wissenschaftlichen Publikums sah sich mit gutem Gewissen darauf gelenkt. Und diese Lehre trat nicht so anspruchsvoll auf, daß sie den Fundamenten der Metaphysik von vornherein verderblich schien. Sie ist ein Versöhnungsversuch zwischen Demokrit und der scholastischen Physik, so wie das Wirken Sennerts als Arzt als ein Versöhnungs- versuch zwischen Galen und Paracelsus aufgefaßt werden kann. Sennert war eine eklektische Natur. Die aristotelischen Be- griffe von Form und Materie hielt er fest. Er hebt nicht, wie z. B. Bodin, den Begriff der Substanz hervor, sondern die Form ist ihm das Maßgebende. Aber allerdings soll innerhalb der Physik die beharrende und bestimmende Form nur den kleinsten Teilchen der Körper zukommen; thatsächlich sind es die For- men der Atome, d. h. die in ihrer Natur enthaltenen wirken- den Kräfte und Eigenschaften, welche die Naturentwickelung bedingen und die selbst nur von Gottes Allweisheit bedingt sind; wobei freilich andrerseits die Wirkung eines geistigen Fluidums oder Spiritus und der verborgene Einfluß unergründ- licher Qualitäten nicht ausgeschlossen bleibt. Diese Zusammen- ordnung des aristotelischen Begriffs von Materie und Form mit der endlichen Teilbarkeit der Materie charakterisiert die Theorie Sennerts als eine lediglich praktischen Zwecken dienende, rein physikalische Atomistik. Nur zur Erklärung gewisser physischer und chemischer Vorgänge bedarf er seiner minima corpuscula mit bestimmten und beharrenden Eigenschaften. Diese Kor- puskeln oder qualitativen Atome unterscheiden sich lediglich 1 Judicia virorum aliquot clarissimorum. Vorgedruckt den Op. 1666 und
1676. Vgl. ferner: Pope Blount, Censura p. 921. Näheres in m. Abhandl. S. 432. Sennert: Autorität und Wirkungsweise. nerts Ansehen war, wie aus den Zeugnissen seiner Zeitgenossenhervorgeht,1 ein außerordentliches. Hochgeachtet wegen der Festigkeit seines Charakters, beliebt wegen der Milde seiner Gesinnung, weitbekannt als Lehrer und Gelehrter und weltbe- rühmt durch seine Geschicklichkeit als Arzt besaß er eine ge- wichtige Autorität. Wenn ein solcher Mann eine unbeachtete oder als verboten angesehene Lehre anerkennend besprach, so durfte der ruhige und vorsichtige Freund behutsam vorschrei- tender Wissenschaft die Prüfung nicht abweisen; so trat das Neue mit trefflicher Empfehlung in die akademischen Kreise, und die Aufmerksamkeit des wissenschaftlichen Publikums sah sich mit gutem Gewissen darauf gelenkt. Und diese Lehre trat nicht so anspruchsvoll auf, daß sie den Fundamenten der Metaphysik von vornherein verderblich schien. Sie ist ein Versöhnungsversuch zwischen Demokrit und der scholastischen Physik, so wie das Wirken Sennerts als Arzt als ein Versöhnungs- versuch zwischen Galen und Paracelsus aufgefaßt werden kann. Sennert war eine eklektische Natur. Die aristotelischen Be- griffe von Form und Materie hielt er fest. Er hebt nicht, wie z. B. Bodin, den Begriff der Substanz hervor, sondern die Form ist ihm das Maßgebende. Aber allerdings soll innerhalb der Physik die beharrende und bestimmende Form nur den kleinsten Teilchen der Körper zukommen; thatsächlich sind es die For- men der Atome, d. h. die in ihrer Natur enthaltenen wirken- den Kräfte und Eigenschaften, welche die Naturentwickelung bedingen und die selbst nur von Gottes Allweisheit bedingt sind; wobei freilich andrerseits die Wirkung eines geistigen Fluidums oder Spiritus und der verborgene Einfluß unergründ- licher Qualitäten nicht ausgeschlossen bleibt. Diese Zusammen- ordnung des aristotelischen Begriffs von Materie und Form mit der endlichen Teilbarkeit der Materie charakterisiert die Theorie Sennerts als eine lediglich praktischen Zwecken dienende, rein physikalische Atomistik. Nur zur Erklärung gewisser physischer und chemischer Vorgänge bedarf er seiner minima corpuscula mit bestimmten und beharrenden Eigenschaften. Diese Kor- puskeln oder qualitativen Atome unterscheiden sich lediglich 1 Judicia virorum aliquot clarissimorum. Vorgedruckt den Op. 1666 und
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Sennert: Autorität und Wirkungsweise.
nerts Ansehen war, wie aus den Zeugnissen seiner Zeitgenossen
hervorgeht, 1 ein außerordentliches. Hochgeachtet wegen der
Festigkeit seines Charakters, beliebt wegen der Milde seiner
Gesinnung, weitbekannt als Lehrer und Gelehrter und weltbe-
rühmt durch seine Geschicklichkeit als Arzt besaß er eine ge-
wichtige Autorität. Wenn ein solcher Mann eine unbeachtete
oder als verboten angesehene Lehre anerkennend besprach, so
durfte der ruhige und vorsichtige Freund behutsam vorschrei-
tender Wissenschaft die Prüfung nicht abweisen; so trat das
Neue mit trefflicher Empfehlung in die akademischen Kreise,
und die Aufmerksamkeit des wissenschaftlichen Publikums sah
sich mit gutem Gewissen darauf gelenkt. Und diese Lehre
trat nicht so anspruchsvoll auf, daß sie den Fundamenten der
Metaphysik von vornherein verderblich schien. Sie ist ein
Versöhnungsversuch zwischen Demokrit und der scholastischen
Physik, so wie das Wirken Sennerts als Arzt als ein Versöhnungs-
versuch zwischen Galen und Paracelsus aufgefaßt werden kann.
Sennert war eine eklektische Natur. Die aristotelischen Be-
griffe von Form und Materie hielt er fest. Er hebt nicht, wie
z. B. Bodin, den Begriff der Substanz hervor, sondern die Form
ist ihm das Maßgebende. Aber allerdings soll innerhalb der
Physik die beharrende und bestimmende Form nur den kleinsten
Teilchen der Körper zukommen; thatsächlich sind es die For-
men der Atome, d. h. die in ihrer Natur enthaltenen wirken-
den Kräfte und Eigenschaften, welche die Naturentwickelung
bedingen und die selbst nur von Gottes Allweisheit bedingt
sind; wobei freilich andrerseits die Wirkung eines geistigen
Fluidums oder Spiritus und der verborgene Einfluß unergründ-
licher Qualitäten nicht ausgeschlossen bleibt. Diese Zusammen-
ordnung des aristotelischen Begriffs von Materie und Form mit
der endlichen Teilbarkeit der Materie charakterisiert die Theorie
Sennerts als eine lediglich praktischen Zwecken dienende, rein
physikalische Atomistik. Nur zur Erklärung gewisser physischer
und chemischer Vorgänge bedarf er seiner minima corpuscula
mit bestimmten und beharrenden Eigenschaften. Diese Kor-
puskeln oder qualitativen Atome unterscheiden sich lediglich
1 Judicia virorum aliquot clarissimorum. Vorgedruckt den Op. 1666 und
1676. Vgl. ferner: Pope Blount, Censura p. 921. Näheres in m. Abhandl. S. 432.
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