Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite

Lubin: Nichts Unendliches.
endliche teilbar wären, so gäbe es kein Letztes der Teilung,
keinen ersten Moment der Bewegung oder der Zeit, und es
müßte daher in Ermangelung eines solchen Anfangs die Welt
seit Ewigkeit existiert haben.1 Aus diesem Grunde, also im
Interesse der christlichen Lehre, stellt sich Lubin die Aufgabe
zu beweisen, daß keine Zahl, keine Zeit, keine Bewegung und
kein Körper durch Vermehrung ins Unendliche wachsen oder
durch Verminderung ins Unendliche abnehmen, resp. geteilt
werden könne.2 Den Beweis stützt er auf den Satz, daß die
Zahl, d. h. die diskrete Größe, zu jeder der genannten konti-
nuierlichen Größen ein vollkommenes Analogon bilde und mit
ihnen in Proportion stehe. Denn die kontinuierliche Größe
kann gemessen werden, sie setzt also eine zahlenmäßige Dar-
stellung voraus; eine Messung ist ja nur mit Hilfe der Zahl
möglich. Ebensowenig, wie es eine unendliche Zahl gibt, kann
es daher ein unendliches Kontinuum geben; bei dem Versuche,
die unendliche Größe sich vorzustellen, ermüdet der Geist
und sieht sich gezwungen stehen zu bleiben. In der endlichen
Welt kann eben nichts Unendliches konzipiert werden; alle
Kreatur ist endlich, der Schöpfer allein unendlich.3

Lubin hebt hier in bemerkenswerter Weise den Widerspruch
hervor zwischen dem Drange, die Progression bis ins Unend-
liche fortzusetzen, und der Forderung, dieselbe an bestimmter
Grenze abzubrechen. Erstere schreibt er der Phantasie oder
Imagination zu, letztere dem Verstande (ratio). Den Einwand,
daß das Kontinuum doch wenigstens der Möglichkeit nach ins
Unendliche teilbar sei, weist er damit zurück, daß die Mög-
lichkeit der unendlichen Teilung nur in der Fähigkeit unsrer
Vorstellung von einer solchen läge, aber durch diese Möglich-
keit, in der Phantasie mit der Teilung immer weiter zu gehen,

1 A. a. O. Apologia p. 4 b: ... continuorum, hoc est corporis, temporis et
motus, in infinitum subdivisio mihi ab omni illo tempore, quo primum a prae-
ceptoribus mihi expositum est, dubium et de falsitate suspectum. Quo funda-
mento admisso nihil horum aut ex nihilo constaret aut ex nihilo creatum esset,
sed necessario esset ab aeterno, cum ita nullum primum, nullum ultimum
motus aut temporis instans dari possit, utpote quae sint ex hoc dogmate
in infinitum suddivisibilia. Atque hoc adeo fundamentum necessario ipsi
diruendum esse, qui temporis motus et mundi principium demonstrare satagat.
2 A. a. O. c. XIII. p. 147 f.
3 A. a. O. p. 150.

Lubin: Nichts Unendliches.
endliche teilbar wären, so gäbe es kein Letztes der Teilung,
keinen ersten Moment der Bewegung oder der Zeit, und es
müßte daher in Ermangelung eines solchen Anfangs die Welt
seit Ewigkeit existiert haben.1 Aus diesem Grunde, also im
Interesse der christlichen Lehre, stellt sich Lubin die Aufgabe
zu beweisen, daß keine Zahl, keine Zeit, keine Bewegung und
kein Körper durch Vermehrung ins Unendliche wachsen oder
durch Verminderung ins Unendliche abnehmen, resp. geteilt
werden könne.2 Den Beweis stützt er auf den Satz, daß die
Zahl, d. h. die diskrete Größe, zu jeder der genannten konti-
nuierlichen Größen ein vollkommenes Analogon bilde und mit
ihnen in Proportion stehe. Denn die kontinuierliche Größe
kann gemessen werden, sie setzt also eine zahlenmäßige Dar-
stellung voraus; eine Messung ist ja nur mit Hilfe der Zahl
möglich. Ebensowenig, wie es eine unendliche Zahl gibt, kann
es daher ein unendliches Kontinuum geben; bei dem Versuche,
die unendliche Größe sich vorzustellen, ermüdet der Geist
und sieht sich gezwungen stehen zu bleiben. In der endlichen
Welt kann eben nichts Unendliches konzipiert werden; alle
Kreatur ist endlich, der Schöpfer allein unendlich.3

Lubin hebt hier in bemerkenswerter Weise den Widerspruch
hervor zwischen dem Drange, die Progression bis ins Unend-
liche fortzusetzen, und der Forderung, dieselbe an bestimmter
Grenze abzubrechen. Erstere schreibt er der Phantasie oder
Imagination zu, letztere dem Verstande (ratio). Den Einwand,
daß das Kontinuum doch wenigstens der Möglichkeit nach ins
Unendliche teilbar sei, weist er damit zurück, daß die Mög-
lichkeit der unendlichen Teilung nur in der Fähigkeit unsrer
Vorstellung von einer solchen läge, aber durch diese Möglich-
keit, in der Phantasie mit der Teilung immer weiter zu gehen,

1 A. a. O. Apologia p. 4 b: … continuorum, hoc est corporis, temporis et
motus, in infinitum subdivisio mihi ab omni illo tempore, quo primum a prae-
ceptoribus mihi expositum est, dubium et de falsitate suspectum. Quo funda-
mento admisso nihil horum aut ex nihilo constaret aut ex nihilo creatum esset,
sed necessario esset ab aeterno, cum ita nullum primum, nullum ultimum
motus aut temporis instans dari possit, utpote quae sint ex hoc dogmate
in infinitum suddivisibilia. Atque hoc adeo fundamentum necessario ipsi
diruendum esse, qui temporis motus et mundi principium demonstrare satagat.
2 A. a. O. c. XIII. p. 147 f.
3 A. a. O. p. 150.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0422" n="404"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#k">Lubin</hi>: Nichts Unendliches.</fw><lb/>
endliche teilbar wären, so gäbe es kein Letztes der Teilung,<lb/>
keinen ersten Moment der Bewegung oder der Zeit, und es<lb/>
müßte daher in Ermangelung eines solchen Anfangs die Welt<lb/>
seit Ewigkeit existiert haben.<note place="foot" n="1">A. a. O. <hi rendition="#i">Apologia</hi> p. 4 b: &#x2026; continuorum, hoc est corporis, temporis et<lb/>
motus, in infinitum subdivisio mihi ab omni illo tempore, quo primum a prae-<lb/>
ceptoribus mihi expositum est, dubium et de falsitate suspectum. Quo funda-<lb/>
mento admisso nihil horum aut ex nihilo constaret aut ex nihilo creatum esset,<lb/>
sed necessario esset ab aeterno, cum ita nullum primum, nullum ultimum<lb/>
motus aut temporis instans dari possit, utpote quae sint ex hoc dogmate<lb/>
in infinitum suddivisibilia. Atque hoc adeo fundamentum necessario ipsi<lb/>
diruendum esse, qui temporis motus et mundi principium demonstrare satagat.</note> Aus diesem Grunde, also im<lb/>
Interesse der christlichen Lehre, stellt sich <hi rendition="#k">Lubin</hi> die Aufgabe<lb/>
zu beweisen, daß keine Zahl, keine Zeit, keine Bewegung und<lb/>
kein Körper durch Vermehrung ins Unendliche wachsen oder<lb/>
durch Verminderung ins Unendliche abnehmen, resp. geteilt<lb/>
werden könne.<note place="foot" n="2">A. a. O. c. XIII. p. 147 f.</note> Den Beweis stützt er auf den Satz, daß die<lb/>
Zahl, d. h. die diskrete Größe, zu jeder der genannten konti-<lb/>
nuierlichen Größen ein vollkommenes Analogon bilde und mit<lb/>
ihnen in Proportion stehe. Denn die kontinuierliche Größe<lb/>
kann gemessen werden, sie setzt also eine zahlenmäßige Dar-<lb/>
stellung voraus; eine Messung ist ja nur mit Hilfe der Zahl<lb/>
möglich. Ebensowenig, wie es eine unendliche Zahl gibt, kann<lb/>
es daher ein unendliches Kontinuum geben; bei dem Versuche,<lb/>
die unendliche Größe sich vorzustellen, ermüdet der Geist<lb/>
und sieht sich gezwungen stehen zu bleiben. In der endlichen<lb/>
Welt kann eben nichts Unendliches konzipiert werden; alle<lb/>
Kreatur ist endlich, der Schöpfer allein unendlich.<note place="foot" n="3">A. a. O. p. 150.</note></p><lb/>
            <p><hi rendition="#k">Lubin</hi> hebt hier in bemerkenswerter Weise den Widerspruch<lb/>
hervor zwischen dem Drange, die Progression bis ins Unend-<lb/>
liche fortzusetzen, und der Forderung, dieselbe an bestimmter<lb/>
Grenze abzubrechen. Erstere schreibt er der Phantasie oder<lb/>
Imagination zu, letztere dem Verstande (ratio). Den Einwand,<lb/>
daß das Kontinuum doch wenigstens der Möglichkeit nach ins<lb/>
Unendliche teilbar sei, weist er damit zurück, daß die Mög-<lb/>
lichkeit der unendlichen Teilung nur in der Fähigkeit unsrer<lb/>
Vorstellung von einer solchen läge, aber durch diese Möglich-<lb/>
keit, in der Phantasie mit der Teilung immer weiter zu gehen,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[404/0422] Lubin: Nichts Unendliches. endliche teilbar wären, so gäbe es kein Letztes der Teilung, keinen ersten Moment der Bewegung oder der Zeit, und es müßte daher in Ermangelung eines solchen Anfangs die Welt seit Ewigkeit existiert haben. 1 Aus diesem Grunde, also im Interesse der christlichen Lehre, stellt sich Lubin die Aufgabe zu beweisen, daß keine Zahl, keine Zeit, keine Bewegung und kein Körper durch Vermehrung ins Unendliche wachsen oder durch Verminderung ins Unendliche abnehmen, resp. geteilt werden könne. 2 Den Beweis stützt er auf den Satz, daß die Zahl, d. h. die diskrete Größe, zu jeder der genannten konti- nuierlichen Größen ein vollkommenes Analogon bilde und mit ihnen in Proportion stehe. Denn die kontinuierliche Größe kann gemessen werden, sie setzt also eine zahlenmäßige Dar- stellung voraus; eine Messung ist ja nur mit Hilfe der Zahl möglich. Ebensowenig, wie es eine unendliche Zahl gibt, kann es daher ein unendliches Kontinuum geben; bei dem Versuche, die unendliche Größe sich vorzustellen, ermüdet der Geist und sieht sich gezwungen stehen zu bleiben. In der endlichen Welt kann eben nichts Unendliches konzipiert werden; alle Kreatur ist endlich, der Schöpfer allein unendlich. 3 Lubin hebt hier in bemerkenswerter Weise den Widerspruch hervor zwischen dem Drange, die Progression bis ins Unend- liche fortzusetzen, und der Forderung, dieselbe an bestimmter Grenze abzubrechen. Erstere schreibt er der Phantasie oder Imagination zu, letztere dem Verstande (ratio). Den Einwand, daß das Kontinuum doch wenigstens der Möglichkeit nach ins Unendliche teilbar sei, weist er damit zurück, daß die Mög- lichkeit der unendlichen Teilung nur in der Fähigkeit unsrer Vorstellung von einer solchen läge, aber durch diese Möglich- keit, in der Phantasie mit der Teilung immer weiter zu gehen, 1 A. a. O. Apologia p. 4 b: … continuorum, hoc est corporis, temporis et motus, in infinitum subdivisio mihi ab omni illo tempore, quo primum a prae- ceptoribus mihi expositum est, dubium et de falsitate suspectum. Quo funda- mento admisso nihil horum aut ex nihilo constaret aut ex nihilo creatum esset, sed necessario esset ab aeterno, cum ita nullum primum, nullum ultimum motus aut temporis instans dari possit, utpote quae sint ex hoc dogmate in infinitum suddivisibilia. Atque hoc adeo fundamentum necessario ipsi diruendum esse, qui temporis motus et mundi principium demonstrare satagat. 2 A. a. O. c. XIII. p. 147 f. 3 A. a. O. p. 150.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/422
Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 404. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/422>, abgerufen am 18.05.2024.