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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Agrippa v. Nettesheim: Magie.
ganze, große Welt sollte der Seele entbehren.1 Somit hat
Agrippa in den aus der Weltseele stammenden stoisch-plato-
nischen Keimformen ein Mittel gefunden, den allgemeinen
Weltzusammenhang zu erklären. Denn jene in allen Teilen
des Universums thätigen Lebensgeister sind selbst ein Ausfluß
des göttlichen Weltgeistes, durch welchen alles in Zusammen-
hang steht. Die Dinge selbst sind vermöge der sie belebenden
Geister einander feindselig oder befreundet, ziehen sich an
oder stoßen sich ab. Auf diese Weise erklären sich die über-
raschenden Wirkungen der Körper aufeinander, und Agrippa
benutzt diese Erklärung als theoretische Grundlage seiner
natürlichen Magie. Nur eine natürliche Magie erkennt er
an; d. h. wem es gelingt, die komplizierten Einwirkungen der
Elemente und ihrer Verbindungen aufeinander durch Erfahrung
festzustellen, der kann dieselben benützen, um merkwürdige,
magische Wirkungen hervorzubringen. Wenn Agrippa auch
im zweiten Buche seiner Occulta philosophia eine himmlische
oder mathematische, d. h. auf pythagoreisch-kabbalistische
Zahlenspekulation begründete, und im dritten Buch die soge-
nannte religiöse Magie vorträgt, so schwebt ihm in all diesen
Berichten über den gröbsten Aberglauben doch immer der
Gedanke vor, daß er es dabei nicht mit einer Durchbrechung
des Zusammenhanges der Natur, sondern mit einer Bewältigung
ihrer Geheimnisse und einer Wirkung durch die Kenntnis der
Gesetze der Geisterwelt zu thun habe.

Die Erneuerung platonischer Ansichten, wie sie von Georgius
Gemistus Plethon
(+ 1452), von Bessarion (+ 1492) und Marsilius
Ficinus
(+ 1499) angebahnt und von Joh. Pico von Mirandola
(+ 1494) und Joh. Reuchlin (+ 1522) in neuplatonisch-kabbalis-
tischer Richtung fortgeführt wurde, zeigt sich bei Agrippa zu der
Lehre von der Allbelebtheit der Welt systematisiert. Das fünfte
Element des Aristoteles, der Äther, ist mit Hilfe der alchy-
mistischen Quinta essentia verwandelt in den Spiritus mundi. Die
Vorstellung, daß das physische Geschehen durch einen in den
Elementen thätigen Lebensgeist bewirkt wird, tritt der aristo-
telischen Physik als ein nicht zu unterschätzender Feind gegen-
über und hilft die Macht derselben brechen. Dadurch wird

1 A. a. O. Lib. II. c. 56. p. 235.

Agrippa v. Nettesheim: Magie.
ganze, große Welt sollte der Seele entbehren.1 Somit hat
Agrippa in den aus der Weltseele stammenden stoisch-plato-
nischen Keimformen ein Mittel gefunden, den allgemeinen
Weltzusammenhang zu erklären. Denn jene in allen Teilen
des Universums thätigen Lebensgeister sind selbst ein Ausfluß
des göttlichen Weltgeistes, durch welchen alles in Zusammen-
hang steht. Die Dinge selbst sind vermöge der sie belebenden
Geister einander feindselig oder befreundet, ziehen sich an
oder stoßen sich ab. Auf diese Weise erklären sich die über-
raschenden Wirkungen der Körper aufeinander, und Agrippa
benutzt diese Erklärung als theoretische Grundlage seiner
natürlichen Magie. Nur eine natürliche Magie erkennt er
an; d. h. wem es gelingt, die komplizierten Einwirkungen der
Elemente und ihrer Verbindungen aufeinander durch Erfahrung
festzustellen, der kann dieselben benützen, um merkwürdige,
magische Wirkungen hervorzubringen. Wenn Agrippa auch
im zweiten Buche seiner Occulta philosophia eine himmlische
oder mathematische, d. h. auf pythagoreisch-kabbalistische
Zahlenspekulation begründete, und im dritten Buch die soge-
nannte religiöse Magie vorträgt, so schwebt ihm in all diesen
Berichten über den gröbsten Aberglauben doch immer der
Gedanke vor, daß er es dabei nicht mit einer Durchbrechung
des Zusammenhanges der Natur, sondern mit einer Bewältigung
ihrer Geheimnisse und einer Wirkung durch die Kenntnis der
Gesetze der Geisterwelt zu thun habe.

Die Erneuerung platonischer Ansichten, wie sie von Georgius
Gemistus Plethon
(† 1452), von Bessarion († 1492) und Marsilius
Ficinus
(† 1499) angebahnt und von Joh. Pico von Mirandola
(† 1494) und Joh. Reuchlin († 1522) in neuplatonisch-kabbalis-
tischer Richtung fortgeführt wurde, zeigt sich bei Agrippa zu der
Lehre von der Allbelebtheit der Welt systematisiert. Das fünfte
Element des Aristoteles, der Äther, ist mit Hilfe der alchy-
mistischen Quinta essentia verwandelt in den Spiritus mundi. Die
Vorstellung, daß das physische Geschehen durch einen in den
Elementen thätigen Lebensgeist bewirkt wird, tritt der aristo-
telischen Physik als ein nicht zu unterschätzender Feind gegen-
über und hilft die Macht derselben brechen. Dadurch wird

1 A. a. O. Lib. II. c. 56. p. 235.
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[293/0311] Agrippa v. Nettesheim: Magie. ganze, große Welt sollte der Seele entbehren. 1 Somit hat Agrippa in den aus der Weltseele stammenden stoisch-plato- nischen Keimformen ein Mittel gefunden, den allgemeinen Weltzusammenhang zu erklären. Denn jene in allen Teilen des Universums thätigen Lebensgeister sind selbst ein Ausfluß des göttlichen Weltgeistes, durch welchen alles in Zusammen- hang steht. Die Dinge selbst sind vermöge der sie belebenden Geister einander feindselig oder befreundet, ziehen sich an oder stoßen sich ab. Auf diese Weise erklären sich die über- raschenden Wirkungen der Körper aufeinander, und Agrippa benutzt diese Erklärung als theoretische Grundlage seiner natürlichen Magie. Nur eine natürliche Magie erkennt er an; d. h. wem es gelingt, die komplizierten Einwirkungen der Elemente und ihrer Verbindungen aufeinander durch Erfahrung festzustellen, der kann dieselben benützen, um merkwürdige, magische Wirkungen hervorzubringen. Wenn Agrippa auch im zweiten Buche seiner Occulta philosophia eine himmlische oder mathematische, d. h. auf pythagoreisch-kabbalistische Zahlenspekulation begründete, und im dritten Buch die soge- nannte religiöse Magie vorträgt, so schwebt ihm in all diesen Berichten über den gröbsten Aberglauben doch immer der Gedanke vor, daß er es dabei nicht mit einer Durchbrechung des Zusammenhanges der Natur, sondern mit einer Bewältigung ihrer Geheimnisse und einer Wirkung durch die Kenntnis der Gesetze der Geisterwelt zu thun habe. Die Erneuerung platonischer Ansichten, wie sie von Georgius Gemistus Plethon († 1452), von Bessarion († 1492) und Marsilius Ficinus († 1499) angebahnt und von Joh. Pico von Mirandola († 1494) und Joh. Reuchlin († 1522) in neuplatonisch-kabbalis- tischer Richtung fortgeführt wurde, zeigt sich bei Agrippa zu der Lehre von der Allbelebtheit der Welt systematisiert. Das fünfte Element des Aristoteles, der Äther, ist mit Hilfe der alchy- mistischen Quinta essentia verwandelt in den Spiritus mundi. Die Vorstellung, daß das physische Geschehen durch einen in den Elementen thätigen Lebensgeist bewirkt wird, tritt der aristo- telischen Physik als ein nicht zu unterschätzender Feind gegen- über und hilft die Macht derselben brechen. Dadurch wird 1 A. a. O. Lib. II. c. 56. p. 235.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/311>, abgerufen am 22.11.2024.