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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Veränderlichkeit als Realität.
durch das Denkmittel der Substanzialität ein Ding mit seinen
Eigenschaften gesetzt, so verhindert die Identität desselben mit
sich selbst das Denken der Veränderung. Das Ding bleibt
entweder unverändert, oder es ist nicht mehr das Ding. Sokrates
ist entweder lebendig oder tot. Der Übergang selbst ist nicht
zu erfassen. Das Denken sieht sich gezwungen, unendlich
viele Zwischenzustände zu setzen. Die Kontinuität des Ge-
schehens löst sich unter dem Denkmittel der Substanzialität
in eine unvollziehbare Unendlichkeit einzelner Akte auf. Das
Seiende kann nicht veränderlich gedacht werden. Die zeno-
nischen Beweise haben dies speziell am Kontinuum des Raumes,
der Zeit und der Bewegung erläutert. Aristoteles konnte den
Widerspruch verhüllen, aber nicht lösen. So lange es kein
Denkmittel gab, das Kontinuum in seinem Zusammenhange
selbst, das Gegebene als ein Werdendes zu denken, so
lange blieb der Fluß der Erscheinungen zwar ein unmittelbares
Erlebnis, das man in der Erfahrung aufweisen und nicht be-
zweifeln konnte, aber es blieb unzugänglich der wissen-
schaftlichen Beherrschung,
der begrifflichen Fixierung.
Das Denkmittel der Substanzialität reichte dazu nicht aus, das
der Kausalität entbehrte der Fundierung. Die Kausalität
konnte nicht nachweisen, ein wirkliches Band der Dinge zu
sein, wenn man nicht zuvor begreifen konnte, daß in den
Dingen ein Prinzip der Veränderung liege, welches in den
Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt seine
Wurzel habe. Deshalb mußte erkannt werden, daß das
Wesen der Veränderlichkeit selbst das eigentlich
Reale in den Dingen sei, daß dasjenige rationale
Element, wodurch der Wandel der Erscheinung
denkbar wird, auch zugleich die Realität dieser
Dinge, das Beharrende im Wandel setzt
. Die Realität
der Dinge ist nicht garantiert durch die Substanzialität, sie ist
auch nicht garantiert durch die kausale Beziehung; denn beides
sind Relationen, welche zwischen schon Gegebenem vermitteln.1
Es muß im Wesen des Denkens selbst etwas liegen, das den
Dingen Realität verleiht, indem es dieselben vorstellt als das
Gesetz ihrer Entwickelung in sich tragend
. Die

1 Vgl. Cohen Princ. S. 28 f., 34 u. a.; Kants Theorie S. 422 ff.

Veränderlichkeit als Realität.
durch das Denkmittel der Substanzialität ein Ding mit seinen
Eigenschaften gesetzt, so verhindert die Identität desselben mit
sich selbst das Denken der Veränderung. Das Ding bleibt
entweder unverändert, oder es ist nicht mehr das Ding. Sokrates
ist entweder lebendig oder tot. Der Übergang selbst ist nicht
zu erfassen. Das Denken sieht sich gezwungen, unendlich
viele Zwischenzustände zu setzen. Die Kontinuität des Ge-
schehens löst sich unter dem Denkmittel der Substanzialität
in eine unvollziehbare Unendlichkeit einzelner Akte auf. Das
Seiende kann nicht veränderlich gedacht werden. Die zeno-
nischen Beweise haben dies speziell am Kontinuum des Raumes,
der Zeit und der Bewegung erläutert. Aristoteles konnte den
Widerspruch verhüllen, aber nicht lösen. So lange es kein
Denkmittel gab, das Kontinuum in seinem Zusammenhange
selbst, das Gegebene als ein Werdendes zu denken, so
lange blieb der Fluß der Erscheinungen zwar ein unmittelbares
Erlebnis, das man in der Erfahrung aufweisen und nicht be-
zweifeln konnte, aber es blieb unzugänglich der wissen-
schaftlichen Beherrschung,
der begrifflichen Fixierung.
Das Denkmittel der Substanzialität reichte dazu nicht aus, das
der Kausalität entbehrte der Fundierung. Die Kausalität
konnte nicht nachweisen, ein wirkliches Band der Dinge zu
sein, wenn man nicht zuvor begreifen konnte, daß in den
Dingen ein Prinzip der Veränderung liege, welches in den
Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt seine
Wurzel habe. Deshalb mußte erkannt werden, daß das
Wesen der Veränderlichkeit selbst das eigentlich
Reale in den Dingen sei, daß dasjenige rationale
Element, wodurch der Wandel der Erscheinung
denkbar wird, auch zugleich die Realität dieser
Dinge, das Beharrende im Wandel setzt
. Die Realität
der Dinge ist nicht garantiert durch die Substanzialität, sie ist
auch nicht garantiert durch die kausale Beziehung; denn beides
sind Relationen, welche zwischen schon Gegebenem vermitteln.1
Es muß im Wesen des Denkens selbst etwas liegen, das den
Dingen Realität verleiht, indem es dieselben vorstellt als das
Gesetz ihrer Entwickelung in sich tragend
. Die

1 Vgl. Cohen Princ. S. 28 f., 34 u. a.; Kants Theorie S. 422 ff.
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[270/0288] Veränderlichkeit als Realität. durch das Denkmittel der Substanzialität ein Ding mit seinen Eigenschaften gesetzt, so verhindert die Identität desselben mit sich selbst das Denken der Veränderung. Das Ding bleibt entweder unverändert, oder es ist nicht mehr das Ding. Sokrates ist entweder lebendig oder tot. Der Übergang selbst ist nicht zu erfassen. Das Denken sieht sich gezwungen, unendlich viele Zwischenzustände zu setzen. Die Kontinuität des Ge- schehens löst sich unter dem Denkmittel der Substanzialität in eine unvollziehbare Unendlichkeit einzelner Akte auf. Das Seiende kann nicht veränderlich gedacht werden. Die zeno- nischen Beweise haben dies speziell am Kontinuum des Raumes, der Zeit und der Bewegung erläutert. Aristoteles konnte den Widerspruch verhüllen, aber nicht lösen. So lange es kein Denkmittel gab, das Kontinuum in seinem Zusammenhange selbst, das Gegebene als ein Werdendes zu denken, so lange blieb der Fluß der Erscheinungen zwar ein unmittelbares Erlebnis, das man in der Erfahrung aufweisen und nicht be- zweifeln konnte, aber es blieb unzugänglich der wissen- schaftlichen Beherrschung, der begrifflichen Fixierung. Das Denkmittel der Substanzialität reichte dazu nicht aus, das der Kausalität entbehrte der Fundierung. Die Kausalität konnte nicht nachweisen, ein wirkliches Band der Dinge zu sein, wenn man nicht zuvor begreifen konnte, daß in den Dingen ein Prinzip der Veränderung liege, welches in den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt seine Wurzel habe. Deshalb mußte erkannt werden, daß das Wesen der Veränderlichkeit selbst das eigentlich Reale in den Dingen sei, daß dasjenige rationale Element, wodurch der Wandel der Erscheinung denkbar wird, auch zugleich die Realität dieser Dinge, das Beharrende im Wandel setzt. Die Realität der Dinge ist nicht garantiert durch die Substanzialität, sie ist auch nicht garantiert durch die kausale Beziehung; denn beides sind Relationen, welche zwischen schon Gegebenem vermitteln. 1 Es muß im Wesen des Denkens selbst etwas liegen, das den Dingen Realität verleiht, indem es dieselben vorstellt als das Gesetz ihrer Entwickelung in sich tragend. Die 1 Vgl. Cohen Princ. S. 28 f., 34 u. a.; Kants Theorie S. 422 ff.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/288>, abgerufen am 28.09.2024.