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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Seneca.
Sein der Eigenschaften in der Substanz wird in ähnlicher Weise
vorgestellt, wie das Sein der Eigenschaften in der Mischung. Kor-
puskular freilich ist die Physik der Stoiker keineswegs, der Stoff
wird ausdrücklich als ins Unendliche teilbar erklärt. In dieser
Hinsicht bekämpft der Stoicismus Demokrit ebenso, wie es der Ari-
stotelismus that. Auch verhindert die Lehre von der allgemeinen
Durchdringung der Körper, der #, das Zustande-
kommen eines brauchbaren Begriffs vom Körper. Dennoch ist
die Physik der Stoa vielmehr geeignet als die aristotelische,
korpuskularen Annahmen sich anzupassen und atomistische
Elemente in sich aufzunehmen, weil sie von vornherein durch die
körperliche Auffassung alles Seienden der naturwissenschaft-
lichen Denkweise den Boden bereitet. Der Dynamismus der
Stoiker kann in den Händen philosophisch ungeschulter Em-
piriker leicht in anschauliche mechanische Vorstellungen um-
schlagen und ist in seiner Unbestimmtheit jedenfalls wenig
widerstandsfähig gegen die eklektischen Neigungen der physi-
kalischen Theorien.

Wenn auch der Materialismus der Stoa dem vom christ-
lichen Interesse beherrschten Mittelalter nicht weniger bedenk-
lich als derjenige der Atomistik erscheinen mußte, so gereicht
doch anderseits das ethische Interesse, welches den Stoi-
cismus leitet, der Kenntnisnahme und Beachtung seiner Lehren
zum Vorteil. Gewiß hat das ethische Pathos Senecas nicht
wenig dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit auch auf seine
Physik zu lenken und seine "Sieben Bücher über naturwissen-
schaftliche Fragen" zu einer im Mittelalter vielgelesenen Lektüre
zu machen. Stand doch Senecas Person in hohem Ansehen,
er selbst galt für einen Christen und seine physikalischen Be-
merkungen wurden vielfach benutzt und studiert.1 Wird man
auch den Einfluß seiner rhetorischen Lobpreisungen der Physik2
nicht zu hoch anschlagen dürfen, so bilden sie immerhin einen
wertvollen Gegensatz zu den abfälligen Urteilen der Kirchen-
väter über den Nutzen der Physik, indem sie die Erhabenheit

1 Namentlich in dem großen Sammelwerke des Vincentius Bellovacensis
(de Beauvais, + um 1265): Speculi majoris Vincentii Burgundi Praesulis Bel-
vacensis
tomi IV etc. Venetiis 1591. -- Über des Vincentius naturwissenschaft-
liche Ansichten berichtet Zöckler, I. S. 455 ff.
2 Natur. quaest. L. I Prologus. L. III, praef. 18., L. VI, c. 4, 2.

Seneca.
Sein der Eigenschaften in der Substanz wird in ähnlicher Weise
vorgestellt, wie das Sein der Eigenschaften in der Mischung. Kor-
puskular freilich ist die Physik der Stoiker keineswegs, der Stoff
wird ausdrücklich als ins Unendliche teilbar erklärt. In dieser
Hinsicht bekämpft der Stoicismus Demokrit ebenso, wie es der Ari-
stotelismus that. Auch verhindert die Lehre von der allgemeinen
Durchdringung der Körper, der #, das Zustande-
kommen eines brauchbaren Begriffs vom Körper. Dennoch ist
die Physik der Stoa vielmehr geeignet als die aristotelische,
korpuskularen Annahmen sich anzupassen und atomistische
Elemente in sich aufzunehmen, weil sie von vornherein durch die
körperliche Auffassung alles Seienden der naturwissenschaft-
lichen Denkweise den Boden bereitet. Der Dynamismus der
Stoiker kann in den Händen philosophisch ungeschulter Em-
piriker leicht in anschauliche mechanische Vorstellungen um-
schlagen und ist in seiner Unbestimmtheit jedenfalls wenig
widerstandsfähig gegen die eklektischen Neigungen der physi-
kalischen Theorien.

Wenn auch der Materialismus der Stoa dem vom christ-
lichen Interesse beherrschten Mittelalter nicht weniger bedenk-
lich als derjenige der Atomistik erscheinen mußte, so gereicht
doch anderseits das ethische Interesse, welches den Stoi-
cismus leitet, der Kenntnisnahme und Beachtung seiner Lehren
zum Vorteil. Gewiß hat das ethische Pathos Senecas nicht
wenig dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit auch auf seine
Physik zu lenken und seine „Sieben Bücher über naturwissen-
schaftliche Fragen‟ zu einer im Mittelalter vielgelesenen Lektüre
zu machen. Stand doch Senecas Person in hohem Ansehen,
er selbst galt für einen Christen und seine physikalischen Be-
merkungen wurden vielfach benutzt und studiert.1 Wird man
auch den Einfluß seiner rhetorischen Lobpreisungen der Physik2
nicht zu hoch anschlagen dürfen, so bilden sie immerhin einen
wertvollen Gegensatz zu den abfälligen Urteilen der Kirchen-
väter über den Nutzen der Physik, indem sie die Erhabenheit

1 Namentlich in dem großen Sammelwerke des Vincentius Bellovacensis
(de Beauvais, † um 1265): Speculi majoris Vincentii Burgundi Praesulis Bel-
vacensis
tomi IV etc. Venetiis 1591. — Über des Vincentius naturwissenschaft-
liche Ansichten berichtet Zöckler, I. S. 455 ff.
2 Natur. quaest. L. I Prologus. L. III, praef. 18., L. VI, c. 4, 2.
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[220/0238] Seneca. Sein der Eigenschaften in der Substanz wird in ähnlicher Weise vorgestellt, wie das Sein der Eigenschaften in der Mischung. Kor- puskular freilich ist die Physik der Stoiker keineswegs, der Stoff wird ausdrücklich als ins Unendliche teilbar erklärt. In dieser Hinsicht bekämpft der Stoicismus Demokrit ebenso, wie es der Ari- stotelismus that. Auch verhindert die Lehre von der allgemeinen Durchdringung der Körper, der #, das Zustande- kommen eines brauchbaren Begriffs vom Körper. Dennoch ist die Physik der Stoa vielmehr geeignet als die aristotelische, korpuskularen Annahmen sich anzupassen und atomistische Elemente in sich aufzunehmen, weil sie von vornherein durch die körperliche Auffassung alles Seienden der naturwissenschaft- lichen Denkweise den Boden bereitet. Der Dynamismus der Stoiker kann in den Händen philosophisch ungeschulter Em- piriker leicht in anschauliche mechanische Vorstellungen um- schlagen und ist in seiner Unbestimmtheit jedenfalls wenig widerstandsfähig gegen die eklektischen Neigungen der physi- kalischen Theorien. Wenn auch der Materialismus der Stoa dem vom christ- lichen Interesse beherrschten Mittelalter nicht weniger bedenk- lich als derjenige der Atomistik erscheinen mußte, so gereicht doch anderseits das ethische Interesse, welches den Stoi- cismus leitet, der Kenntnisnahme und Beachtung seiner Lehren zum Vorteil. Gewiß hat das ethische Pathos Senecas nicht wenig dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit auch auf seine Physik zu lenken und seine „Sieben Bücher über naturwissen- schaftliche Fragen‟ zu einer im Mittelalter vielgelesenen Lektüre zu machen. Stand doch Senecas Person in hohem Ansehen, er selbst galt für einen Christen und seine physikalischen Be- merkungen wurden vielfach benutzt und studiert. 1 Wird man auch den Einfluß seiner rhetorischen Lobpreisungen der Physik 2 nicht zu hoch anschlagen dürfen, so bilden sie immerhin einen wertvollen Gegensatz zu den abfälligen Urteilen der Kirchen- väter über den Nutzen der Physik, indem sie die Erhabenheit 1 Namentlich in dem großen Sammelwerke des Vincentius Bellovacensis (de Beauvais, † um 1265): Speculi majoris Vincentii Burgundi Praesulis Bel- vacensis tomi IV etc. Venetiis 1591. — Über des Vincentius naturwissenschaft- liche Ansichten berichtet Zöckler, I. S. 455 ff. 2 Natur. quaest. L. I Prologus. L. III, praef. 18., L. VI, c. 4, 2.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/238>, abgerufen am 25.11.2024.