eines neuen Begriffs des Körpers unter verändertem Gesichts- punkte betrachtet werden mußte.
Aristoteles hatte erklärt, daß im Kontinuum zwar un- endlich viele Punkte enthalten seien, aber nur der Möglichkeit nach (potentia), so daß das Kontinuum zwar in jedem Punkte teilbar sei, aber nicht in Wirklichkeit (actu) geteilt werden könne, noch aus Unteilbaren bestände.1
Wenn nun auch Aristoteles überhaupt bestreitet, daß es im Kontinuum etwas Unteilbares gebe, so glaubt doch die Mehrzahl der Scholastiker im Gegensatz zu ihm annehmen zu müssen, daß im Kontinuum unteilbare Punkte reell und positiv bestehen. Zwar herrscht auch in dieser Frage keineswegs Einstimmigkeit im einzelnen, aber in der Hauptsache sind die Häupter der Schule einig, Thomas von Aquino und Duns Scotus stehen hier auf derselben Seite. Man beruft sich schon auf die älteren Ausleger des Aristoteles, wie Philoponus, Themistius und Simplicius, und weiß eine große Reihe neuerer Autoritäten zu nennen. Sachlich wird die Annahme dadurch begründet, daß eine Reihe von That- sachen und Erscheinungen in Mathematik und Philosophie ohne die Existenz unteilbarer Punkte nicht zu verstehen sei. Eine vermittelnde Stellung nimmt Fonseca2 ein, indem er zwar der Fläche als Begrenzung des Körpers eine physische und reale Existenz, der Linie und dem Punkte aber nur mathe- matische und ideelle Geltung zuschreibt. Die Nominalisten dagegen fassen das Unteilbare lediglich als Privation, den Punkt als Negation der Linie, die Linie als Negation der Breite, d. h. der Flächenerstreckung, die Fläche als Negation der Tiefe, d. h. der körperlichen Ausdehnung. Sie stehen dem- nach hier auf Seite der reinen aristotelischen Lehre.
Mit der Bejahung der Existenz indivisibler Punkte im Kontinuum ist aber keineswegs die Frage bejaht, ob das Kon- tinuum aus Punkten bestehe. Dies wird vielmehr, wie sogleich weiter zu entwickeln, fast einstimmig von der Schule mit Aristoteles verneint.
Wir sammeln zuerst die Hauptpunkte für die erstere
1 S. S. 104. Vgl. auch Lib. de lineis insecab. p. 968 ff.
2Comment. in Metaph. Arist. lib. II c. 13. quaest. 6.
D. Kontinuum i. d. Scholastik: Aktuelle Punkte.
eines neuen Begriffs des Körpers unter verändertem Gesichts- punkte betrachtet werden mußte.
Aristoteles hatte erklärt, daß im Kontinuum zwar un- endlich viele Punkte enthalten seien, aber nur der Möglichkeit nach (potentia), so daß das Kontinuum zwar in jedem Punkte teilbar sei, aber nicht in Wirklichkeit (actu) geteilt werden könne, noch aus Unteilbaren bestände.1
Wenn nun auch Aristoteles überhaupt bestreitet, daß es im Kontinuum etwas Unteilbares gebe, so glaubt doch die Mehrzahl der Scholastiker im Gegensatz zu ihm annehmen zu müssen, daß im Kontinuum unteilbare Punkte reell und positiv bestehen. Zwar herrscht auch in dieser Frage keineswegs Einstimmigkeit im einzelnen, aber in der Hauptsache sind die Häupter der Schule einig, Thomas von Aquino und Duns Scotus stehen hier auf derselben Seite. Man beruft sich schon auf die älteren Ausleger des Aristoteles, wie Philoponus, Themistius und Simplicius, und weiß eine große Reihe neuerer Autoritäten zu nennen. Sachlich wird die Annahme dadurch begründet, daß eine Reihe von That- sachen und Erscheinungen in Mathematik und Philosophie ohne die Existenz unteilbarer Punkte nicht zu verstehen sei. Eine vermittelnde Stellung nimmt Fonseca2 ein, indem er zwar der Fläche als Begrenzung des Körpers eine physische und reale Existenz, der Linie und dem Punkte aber nur mathe- matische und ideelle Geltung zuschreibt. Die Nominalisten dagegen fassen das Unteilbare lediglich als Privation, den Punkt als Negation der Linie, die Linie als Negation der Breite, d. h. der Flächenerstreckung, die Fläche als Negation der Tiefe, d. h. der körperlichen Ausdehnung. Sie stehen dem- nach hier auf Seite der reinen aristotelischen Lehre.
Mit der Bejahung der Existenz indivisibler Punkte im Kontinuum ist aber keineswegs die Frage bejaht, ob das Kon- tinuum aus Punkten bestehe. Dies wird vielmehr, wie sogleich weiter zu entwickeln, fast einstimmig von der Schule mit Aristoteles verneint.
Wir sammeln zuerst die Hauptpunkte für die erstere
1 S. S. 104. Vgl. auch Lib. de lineis insecab. p. 968 ff.
2Comment. in Metaph. Arist. lib. II c. 13. quaest. 6.
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[187/0205]
D. Kontinuum i. d. Scholastik: Aktuelle Punkte.
eines neuen Begriffs des Körpers unter verändertem Gesichts-
punkte betrachtet werden mußte.
Aristoteles hatte erklärt, daß im Kontinuum zwar un-
endlich viele Punkte enthalten seien, aber nur der Möglichkeit
nach (potentia), so daß das Kontinuum zwar in jedem Punkte
teilbar sei, aber nicht in Wirklichkeit (actu) geteilt werden
könne, noch aus Unteilbaren bestände. 1
Wenn nun auch Aristoteles überhaupt bestreitet, daß es
im Kontinuum etwas Unteilbares gebe, so glaubt doch die
Mehrzahl der Scholastiker im Gegensatz zu ihm annehmen zu
müssen, daß im Kontinuum unteilbare Punkte reell
und positiv bestehen. Zwar herrscht auch in dieser
Frage keineswegs Einstimmigkeit im einzelnen, aber in der
Hauptsache sind die Häupter der Schule einig, Thomas von
Aquino und Duns Scotus stehen hier auf derselben Seite. Man
beruft sich schon auf die älteren Ausleger des Aristoteles,
wie Philoponus, Themistius und Simplicius, und weiß eine
große Reihe neuerer Autoritäten zu nennen. Sachlich wird
die Annahme dadurch begründet, daß eine Reihe von That-
sachen und Erscheinungen in Mathematik und Philosophie
ohne die Existenz unteilbarer Punkte nicht zu verstehen sei.
Eine vermittelnde Stellung nimmt Fonseca 2 ein, indem er zwar
der Fläche als Begrenzung des Körpers eine physische und
reale Existenz, der Linie und dem Punkte aber nur mathe-
matische und ideelle Geltung zuschreibt. Die Nominalisten
dagegen fassen das Unteilbare lediglich als Privation, den
Punkt als Negation der Linie, die Linie als Negation der
Breite, d. h. der Flächenerstreckung, die Fläche als Negation
der Tiefe, d. h. der körperlichen Ausdehnung. Sie stehen dem-
nach hier auf Seite der reinen aristotelischen Lehre.
Mit der Bejahung der Existenz indivisibler Punkte im
Kontinuum ist aber keineswegs die Frage bejaht, ob das Kon-
tinuum aus Punkten bestehe. Dies wird vielmehr, wie
sogleich weiter zu entwickeln, fast einstimmig von der Schule
mit Aristoteles verneint.
Wir sammeln zuerst die Hauptpunkte für die erstere
1 S. S. 104. Vgl. auch Lib. de lineis insecab. p. 968 ff.
2 Comment. in Metaph. Arist. lib. II c. 13. quaest. 6.
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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/205>, abgerufen am 28.11.2024.
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