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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Archimedes: Messung der krummen Linie.
Hierdurch vermochte er krumme Linien und Oberflächen durch
Längen und ebene Figuren zu messen und zu seinen berühmten
Sätzen zu gelangen, durch welche er die Oberfläche der Kugel
und Kugelkalotte und den Mantel des Cylinders durch die
Kreisfläche auszudrücken lehrte. In der That hat hiermit
Archimedes einen Schritt zur methodischen Erweiterung der
griechischen Mathematik gethan. Sein Kommentator Eutokius
glaubt ihn besonders deshalb rechtfertigen zu müssen, daß er
die Kreisperipherie gleich einer Länge setzte, und bei Archi-
medes
selbst sieht man an der außerordentlichen Vorsicht, mit
welcher er jeden Schritt unternimmt, daß er sich der Neuheit
des Gebietes bewußt war, auf welchem er sich bewegte.
Ähnlich wie die Entdecker der Differenzialrechnung erstaunt
er über die Fruchtbarkeit der eigenen Methode, und deshalb
legt er keiner seiner Entdeckungen mehr Wert bei, als
derjenigen über die Kugel und den ihr umschriebenen
Cylinder. Diese Figuren sollten auf seinen Grabstein ge-
meißelt werden; Cicero erkannte daran das Grabmal des großen
Denkers.1

Aber so tief und schwierig ist das Problem der Bewältigung
des Kontinuitätsbegriffs, daß selbst der freie Genius eines
Archimedes nicht über diesen ersten Anfang hinauskam. Inner-
halb der Raumgröße gelang es ihm, einen gemeinsamen Be-
griff für die gerade und krumme Linie als kontinuierliche
Größe zu ermitteln; aber das war nur eine einzelne Seite des
allgemeinen Problems der Veränderung, nur diejenige, welche
sich auf die Veränderung der Richtung bezog. Er fand ein
Verfahren, den qualitativen Unterschied zwischen Gerade und
Krumm als einen quantitativen der Extension zu erfassen, aber
im letzten Grunde beruht die Berechtigung seines Postulats
doch auf einem kühnen Vertrauen in die Aussage der An-
schauung, nicht auf einer begrifflichen Sicherung durch ein
neues Denkmittel für die kontinuierliche Veränderung. Die
Gewißheit seiner Sätze suchte er vielmehr wieder in der An-
wendung der Exhaustionsmethode, bis zur Einführung des Un-

1 Die Existenz echter syrakusanischer Münzen mit den angegebenen
Figuren ist, wie mir von sachkundigster Seite mitgeteilt wird, durchaus zu
bestreiten.

Archimedes: Messung der krummen Linie.
Hierdurch vermochte er krumme Linien und Oberflächen durch
Längen und ebene Figuren zu messen und zu seinen berühmten
Sätzen zu gelangen, durch welche er die Oberfläche der Kugel
und Kugelkalotte und den Mantel des Cylinders durch die
Kreisfläche auszudrücken lehrte. In der That hat hiermit
Archimedes einen Schritt zur methodischen Erweiterung der
griechischen Mathematik gethan. Sein Kommentator Eutokius
glaubt ihn besonders deshalb rechtfertigen zu müssen, daß er
die Kreisperipherie gleich einer Länge setzte, und bei Archi-
medes
selbst sieht man an der außerordentlichen Vorsicht, mit
welcher er jeden Schritt unternimmt, daß er sich der Neuheit
des Gebietes bewußt war, auf welchem er sich bewegte.
Ähnlich wie die Entdecker der Differenzialrechnung erstaunt
er über die Fruchtbarkeit der eigenen Methode, und deshalb
legt er keiner seiner Entdeckungen mehr Wert bei, als
derjenigen über die Kugel und den ihr umschriebenen
Cylinder. Diese Figuren sollten auf seinen Grabstein ge-
meißelt werden; Cicero erkannte daran das Grabmal des großen
Denkers.1

Aber so tief und schwierig ist das Problem der Bewältigung
des Kontinuitätsbegriffs, daß selbst der freie Genius eines
Archimedes nicht über diesen ersten Anfang hinauskam. Inner-
halb der Raumgröße gelang es ihm, einen gemeinsamen Be-
griff für die gerade und krumme Linie als kontinuierliche
Größe zu ermitteln; aber das war nur eine einzelne Seite des
allgemeinen Problems der Veränderung, nur diejenige, welche
sich auf die Veränderung der Richtung bezog. Er fand ein
Verfahren, den qualitativen Unterschied zwischen Gerade und
Krumm als einen quantitativen der Extension zu erfassen, aber
im letzten Grunde beruht die Berechtigung seines Postulats
doch auf einem kühnen Vertrauen in die Aussage der An-
schauung, nicht auf einer begrifflichen Sicherung durch ein
neues Denkmittel für die kontinuierliche Veränderung. Die
Gewißheit seiner Sätze suchte er vielmehr wieder in der An-
wendung der Exhaustionsmethode, bis zur Einführung des Un-

1 Die Existenz echter syrakusanischer Münzen mit den angegebenen
Figuren ist, wie mir von sachkundigster Seite mitgeteilt wird, durchaus zu
bestreiten.
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[181/0199] Archimedes: Messung der krummen Linie. Hierdurch vermochte er krumme Linien und Oberflächen durch Längen und ebene Figuren zu messen und zu seinen berühmten Sätzen zu gelangen, durch welche er die Oberfläche der Kugel und Kugelkalotte und den Mantel des Cylinders durch die Kreisfläche auszudrücken lehrte. In der That hat hiermit Archimedes einen Schritt zur methodischen Erweiterung der griechischen Mathematik gethan. Sein Kommentator Eutokius glaubt ihn besonders deshalb rechtfertigen zu müssen, daß er die Kreisperipherie gleich einer Länge setzte, und bei Archi- medes selbst sieht man an der außerordentlichen Vorsicht, mit welcher er jeden Schritt unternimmt, daß er sich der Neuheit des Gebietes bewußt war, auf welchem er sich bewegte. Ähnlich wie die Entdecker der Differenzialrechnung erstaunt er über die Fruchtbarkeit der eigenen Methode, und deshalb legt er keiner seiner Entdeckungen mehr Wert bei, als derjenigen über die Kugel und den ihr umschriebenen Cylinder. Diese Figuren sollten auf seinen Grabstein ge- meißelt werden; Cicero erkannte daran das Grabmal des großen Denkers. 1 Aber so tief und schwierig ist das Problem der Bewältigung des Kontinuitätsbegriffs, daß selbst der freie Genius eines Archimedes nicht über diesen ersten Anfang hinauskam. Inner- halb der Raumgröße gelang es ihm, einen gemeinsamen Be- griff für die gerade und krumme Linie als kontinuierliche Größe zu ermitteln; aber das war nur eine einzelne Seite des allgemeinen Problems der Veränderung, nur diejenige, welche sich auf die Veränderung der Richtung bezog. Er fand ein Verfahren, den qualitativen Unterschied zwischen Gerade und Krumm als einen quantitativen der Extension zu erfassen, aber im letzten Grunde beruht die Berechtigung seines Postulats doch auf einem kühnen Vertrauen in die Aussage der An- schauung, nicht auf einer begrifflichen Sicherung durch ein neues Denkmittel für die kontinuierliche Veränderung. Die Gewißheit seiner Sätze suchte er vielmehr wieder in der An- wendung der Exhaustionsmethode, bis zur Einführung des Un- 1 Die Existenz echter syrakusanischer Münzen mit den angegebenen Figuren ist, wie mir von sachkundigster Seite mitgeteilt wird, durchaus zu bestreiten.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/199>, abgerufen am 29.11.2024.