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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Das Buch Jezira.
wachsen, sie geht nicht erst in den sinnlichen Dingen zur
Wirklichkeit über, sondern sie besteht vor den sinnlichen
Dingen, sie ist zur Wirklichkeit aus dem göttlichen Wissen
hervorgegangen. Hier liegt ein Ansatzpunkt für die Materiali-
sierung der Substanz.

5. Die Kabbala.

Indem die Individuation der allgemeinen Materie als eine
Einformung von Begriffen, gewissermaßen eine Vervielfältigung
ursprünglicher Einheiten vorgestellt wird, bekommen auch
die Einzelkörper eine Bestimmtheit aus jenen Grundeinheiten.
Ist die Anzahl der letzteren beschränkt, so erscheint die Sinnen-
welt als eine durch Rechnung auflösbare Kombination fester
Grundformen. Hier darf an die Kabbala erinnert werden.

Das Buch Jezira, welches schon im 10. Jahrhundert für
ein altes Werk gehalten und dem Erzvater Abraham zuge-
schrieben wurde, nimmt als allgemeine Grundprinzipien die
10 Zahlen und 22 Buchstaben. Diese 32 Dinge hat Gott zu-
erst geschaffen und in die Luft (den Hauch, Spiritus) einge-
zeichnet,1 welche dadurch in bestimmte Verhältnisse geteilt
wurde; aus ihnen hat er alle geistigen wie körperlichen Dinge
zusammengesetzt und gebildet. Die Zahlen (Sephiroth) und
Buchstaben finden sich somit auf der Grenze der intelligibeln
und sinnlichen Welt und bilden ein begrenztes System von
Prinzipien, aus denen das gesamte Universum in geheimnis-
voller Weise sich zusammensetzt. Die Grundanschauung,
daß alle Dinge aus Zahlen und Buchstaben sich zusammen-

1 Das Buch Jezira liegt mir in lateinischer Übersetzung vor in "Artis
Cabbalisticae scriptores".
Herausg. v. Pistorius, Basileae 1582 und mit dem
Kommentar von Rittangelius, Amstelod. 1642. In ersterer heißt es Kap. II
(p. 870): "Viginti duae Literae, Fundamenta, Tres matres: Septem duplices:
Duodecim simplices: Tres matres, Eines: id est, aer, aqua et ignis. Aqua
quieta, ignis sibilans, aer spiritus. Viginti duas literas sculpsit, ponderavit, trans-
mutavit, composuit, et creavit cum illis omnem animam creatam et creandam.
Viginti duae literae sunt sculptae in voce, incisae in spiritu, collocatae in
prolatione, in quinque locis. In gutture, in palato, in lingua, in dentibus, in
labiis." -- Vgl. noch Munk, Melanges etc. p. 34. Anm. 2, wo eine hierhinge-
hörige Stelle aus dem (nicht edierten) Kommentar von R. Saadia Gaon ange-
führt ist.

Das Buch Jezira.
wachsen, sie geht nicht erst in den sinnlichen Dingen zur
Wirklichkeit über, sondern sie besteht vor den sinnlichen
Dingen, sie ist zur Wirklichkeit aus dem göttlichen Wissen
hervorgegangen. Hier liegt ein Ansatzpunkt für die Materiali-
sierung der Substanz.

5. Die Kabbala.

Indem die Individuation der allgemeinen Materie als eine
Einformung von Begriffen, gewissermaßen eine Vervielfältigung
ursprünglicher Einheiten vorgestellt wird, bekommen auch
die Einzelkörper eine Bestimmtheit aus jenen Grundeinheiten.
Ist die Anzahl der letzteren beschränkt, so erscheint die Sinnen-
welt als eine durch Rechnung auflösbare Kombination fester
Grundformen. Hier darf an die Kabbala erinnert werden.

Das Buch Jezira, welches schon im 10. Jahrhundert für
ein altes Werk gehalten und dem Erzvater Abraham zuge-
schrieben wurde, nimmt als allgemeine Grundprinzipien die
10 Zahlen und 22 Buchstaben. Diese 32 Dinge hat Gott zu-
erst geschaffen und in die Luft (den Hauch, Spiritus) einge-
zeichnet,1 welche dadurch in bestimmte Verhältnisse geteilt
wurde; aus ihnen hat er alle geistigen wie körperlichen Dinge
zusammengesetzt und gebildet. Die Zahlen (Sephiroth) und
Buchstaben finden sich somit auf der Grenze der intelligibeln
und sinnlichen Welt und bilden ein begrenztes System von
Prinzipien, aus denen das gesamte Universum in geheimnis-
voller Weise sich zusammensetzt. Die Grundanschauung,
daß alle Dinge aus Zahlen und Buchstaben sich zusammen-

1 Das Buch Jezira liegt mir in lateinischer Übersetzung vor in „Artis
Cabbalisticae scriptores‟.
Herausg. v. Pistorius, Basileae 1582 und mit dem
Kommentar von Rittangelius, Amstelod. 1642. In ersterer heißt es Kap. II
(p. 870): „Viginti duae Literae, Fundamenta, Tres matres: Septem duplices:
Duodecim simplices: Tres matres, Eines: id est, aër, aqua et ignis. Aqua
quieta, ignis sibilans, aër spiritus. Viginti duas literas sculpsit, ponderavit, trans-
mutavit, composuit, et creavit cum illis omnem animam creatam et creandam.
Viginti duae literae sunt sculptae in voce, incisae in spiritu, collocatae in
prolatione, in quinque locis. In gutture, in palato, in lingua, in dentibus, in
labiis.‟ — Vgl. noch Munk, Mélanges etc. p. 34. Anm. 2, wo eine hierhinge-
hörige Stelle aus dem (nicht edierten) Kommentar von R. Saadia Gaon ange-
führt ist.
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[168/0186] Das Buch Jezira. wachsen, sie geht nicht erst in den sinnlichen Dingen zur Wirklichkeit über, sondern sie besteht vor den sinnlichen Dingen, sie ist zur Wirklichkeit aus dem göttlichen Wissen hervorgegangen. Hier liegt ein Ansatzpunkt für die Materiali- sierung der Substanz. 5. Die Kabbala. Indem die Individuation der allgemeinen Materie als eine Einformung von Begriffen, gewissermaßen eine Vervielfältigung ursprünglicher Einheiten vorgestellt wird, bekommen auch die Einzelkörper eine Bestimmtheit aus jenen Grundeinheiten. Ist die Anzahl der letzteren beschränkt, so erscheint die Sinnen- welt als eine durch Rechnung auflösbare Kombination fester Grundformen. Hier darf an die Kabbala erinnert werden. Das Buch Jezira, welches schon im 10. Jahrhundert für ein altes Werk gehalten und dem Erzvater Abraham zuge- schrieben wurde, nimmt als allgemeine Grundprinzipien die 10 Zahlen und 22 Buchstaben. Diese 32 Dinge hat Gott zu- erst geschaffen und in die Luft (den Hauch, Spiritus) einge- zeichnet, 1 welche dadurch in bestimmte Verhältnisse geteilt wurde; aus ihnen hat er alle geistigen wie körperlichen Dinge zusammengesetzt und gebildet. Die Zahlen (Sephiroth) und Buchstaben finden sich somit auf der Grenze der intelligibeln und sinnlichen Welt und bilden ein begrenztes System von Prinzipien, aus denen das gesamte Universum in geheimnis- voller Weise sich zusammensetzt. Die Grundanschauung, daß alle Dinge aus Zahlen und Buchstaben sich zusammen- 1 Das Buch Jezira liegt mir in lateinischer Übersetzung vor in „Artis Cabbalisticae scriptores‟. Herausg. v. Pistorius, Basileae 1582 und mit dem Kommentar von Rittangelius, Amstelod. 1642. In ersterer heißt es Kap. II (p. 870): „Viginti duae Literae, Fundamenta, Tres matres: Septem duplices: Duodecim simplices: Tres matres, Eines: id est, aër, aqua et ignis. Aqua quieta, ignis sibilans, aër spiritus. Viginti duas literas sculpsit, ponderavit, trans- mutavit, composuit, et creavit cum illis omnem animam creatam et creandam. Viginti duae literae sunt sculptae in voce, incisae in spiritu, collocatae in prolatione, in quinque locis. In gutture, in palato, in lingua, in dentibus, in labiis.‟ — Vgl. noch Munk, Mélanges etc. p. 34. Anm. 2, wo eine hierhinge- hörige Stelle aus dem (nicht edierten) Kommentar von R. Saadia Gaon ange- führt ist.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/186>, abgerufen am 28.11.2024.