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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Saadia: Theologisches Interesse.
sie sich mit diesen Irrtümern, wobei sie dazu weder Zeichen
noch Wunder anerkennen und doch nicht umhin können,
Nichtwahrnehmbares zuzugeben."

Aus der Verworrenheit dieser Angaben Saadias, dessen
Buch, das allerdings nur einen populären Charakter beanspruchte,1
ein Jahrhundert nach der Übersetzung der aristotelischen
Schriften ins Arabische abgefaßt wurde, läßt sich erkennen,
wie schwer es dem orientalischen Geist, sowohl Mohammedanern
wie Juden wurde, sich in die Anschauungen der griechischen
Philosophie einzuarbeiten, ein Prozeß, der übrigens dem
Abendlande nicht weniger Mühe verursacht hat.

Saadias Polemik gegen die Atomisten oder gegen die
Lehren, die er für atomistische hielt, bildet ein Gegenstück zu
der viel klareren Darstellung des Moses Maimonides, welchem
die Entwickelung des Kalam von zwei weiteren Jahrhunderten
vorlag, während deren sowohl die Kenntnis der griechischen
Quellen eine bessere2, als auch die Durchdringung der Konse-
quenzen der Atomistik eine tiefere geworden war. Während
dieses ganzen Zeitraums aber bemerkt man keine Veränderung
an der geringen Bedeutung, welche die Atomistik für die
Physik als solche besaß. Es handelt sich lediglich um das
theologische Interesse, und die Physik wird nur betrieben, um
als Waffe im Streite der religiösen Parteien zu dienen. Ab-
gesehen von den Studien der Ärzte, bei denen aber bei weitem
die praktischen Fragen vorwalten, sind theoretische Betrach-
tungen über physikalische Prinzipien nur an solchen Stellen
zu finden, wo dieselben für die Entscheidung einer theologischen
Frage von Bedeutung werden. Und das gilt von Mohammedanern,
Juden und Christen im gleichem Maße.

1 Kaufmann, Geschichte der Attributenlehre, Gotha 1877. S. 79.
2 So gibt der um die Mitte des 14. Jahrhunderts wirkende Karäer Ahron
ben Elia
in seinem Werke Lebensbaum im vierten Kapitel eine Darstellung
der Atomistik, in welcher er den Unterschied der antiken Atomistik von der
der Mutakallimun deutlich hervorhebt. Auch unterscheidet er das mathemati-
sche Atom, das eine bloße Abstraktion sei, von dem physischen Atom, das der
physisch schlechthin unteilbare Grundstoff der Dinge sei. Im Gegensatz zu
Moses ben Maimun steht er der Atomenlehre bedeutend wohlwollender gegen-
über. S. Delitzsch, Anecdota zur Geschichte der mittelalterlichen Scholastik
unter Juden und Moslemen.
Leipzig 1841. p. XIX.

Saadia: Theologisches Interesse.
sie sich mit diesen Irrtümern, wobei sie dazu weder Zeichen
noch Wunder anerkennen und doch nicht umhin können,
Nichtwahrnehmbares zuzugeben.‟

Aus der Verworrenheit dieser Angaben Saadias, dessen
Buch, das allerdings nur einen populären Charakter beanspruchte,1
ein Jahrhundert nach der Übersetzung der aristotelischen
Schriften ins Arabische abgefaßt wurde, läßt sich erkennen,
wie schwer es dem orientalischen Geist, sowohl Mohammedanern
wie Juden wurde, sich in die Anschauungen der griechischen
Philosophie einzuarbeiten, ein Prozeß, der übrigens dem
Abendlande nicht weniger Mühe verursacht hat.

Saadias Polemik gegen die Atomisten oder gegen die
Lehren, die er für atomistische hielt, bildet ein Gegenstück zu
der viel klareren Darstellung des Moses Maimonides, welchem
die Entwickelung des Kalâm von zwei weiteren Jahrhunderten
vorlag, während deren sowohl die Kenntnis der griechischen
Quellen eine bessere2, als auch die Durchdringung der Konse-
quenzen der Atomistik eine tiefere geworden war. Während
dieses ganzen Zeitraums aber bemerkt man keine Veränderung
an der geringen Bedeutung, welche die Atomistik für die
Physik als solche besaß. Es handelt sich lediglich um das
theologische Interesse, und die Physik wird nur betrieben, um
als Waffe im Streite der religiösen Parteien zu dienen. Ab-
gesehen von den Studien der Ärzte, bei denen aber bei weitem
die praktischen Fragen vorwalten, sind theoretische Betrach-
tungen über physikalische Prinzipien nur an solchen Stellen
zu finden, wo dieselben für die Entscheidung einer theologischen
Frage von Bedeutung werden. Und das gilt von Mohammedanern,
Juden und Christen im gleichem Maße.

1 Kaufmann, Geschichte der Attributenlehre, Gotha 1877. S. 79.
2 So gibt der um die Mitte des 14. Jahrhunderts wirkende Karäer Ahron
ben Elia
in seinem Werke Lebensbaum im vierten Kapitel eine Darstellung
der Atomistik, in welcher er den Unterschied der antiken Atomistik von der
der Mutakallimun deutlich hervorhebt. Auch unterscheidet er das mathemati-
sche Atom, das eine bloße Abstraktion sei, von dem physischen Atom, das der
physisch schlechthin unteilbare Grundstoff der Dinge sei. Im Gegensatz zu
Moses ben Maimun steht er der Atomenlehre bedeutend wohlwollender gegen-
über. S. Delitzsch, Anecdota zur Geschichte der mittelalterlichen Scholastik
unter Juden und Moslemen.
Leipzig 1841. p. XIX.
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[155/0173] Saadia: Theologisches Interesse. sie sich mit diesen Irrtümern, wobei sie dazu weder Zeichen noch Wunder anerkennen und doch nicht umhin können, Nichtwahrnehmbares zuzugeben.‟ Aus der Verworrenheit dieser Angaben Saadias, dessen Buch, das allerdings nur einen populären Charakter beanspruchte, 1 ein Jahrhundert nach der Übersetzung der aristotelischen Schriften ins Arabische abgefaßt wurde, läßt sich erkennen, wie schwer es dem orientalischen Geist, sowohl Mohammedanern wie Juden wurde, sich in die Anschauungen der griechischen Philosophie einzuarbeiten, ein Prozeß, der übrigens dem Abendlande nicht weniger Mühe verursacht hat. Saadias Polemik gegen die Atomisten oder gegen die Lehren, die er für atomistische hielt, bildet ein Gegenstück zu der viel klareren Darstellung des Moses Maimonides, welchem die Entwickelung des Kalâm von zwei weiteren Jahrhunderten vorlag, während deren sowohl die Kenntnis der griechischen Quellen eine bessere 2, als auch die Durchdringung der Konse- quenzen der Atomistik eine tiefere geworden war. Während dieses ganzen Zeitraums aber bemerkt man keine Veränderung an der geringen Bedeutung, welche die Atomistik für die Physik als solche besaß. Es handelt sich lediglich um das theologische Interesse, und die Physik wird nur betrieben, um als Waffe im Streite der religiösen Parteien zu dienen. Ab- gesehen von den Studien der Ärzte, bei denen aber bei weitem die praktischen Fragen vorwalten, sind theoretische Betrach- tungen über physikalische Prinzipien nur an solchen Stellen zu finden, wo dieselben für die Entscheidung einer theologischen Frage von Bedeutung werden. Und das gilt von Mohammedanern, Juden und Christen im gleichem Maße. 1 Kaufmann, Geschichte der Attributenlehre, Gotha 1877. S. 79. 2 So gibt der um die Mitte des 14. Jahrhunderts wirkende Karäer Ahron ben Elia in seinem Werke Lebensbaum im vierten Kapitel eine Darstellung der Atomistik, in welcher er den Unterschied der antiken Atomistik von der der Mutakallimun deutlich hervorhebt. Auch unterscheidet er das mathemati- sche Atom, das eine bloße Abstraktion sei, von dem physischen Atom, das der physisch schlechthin unteilbare Grundstoff der Dinge sei. Im Gegensatz zu Moses ben Maimun steht er der Atomenlehre bedeutend wohlwollender gegen- über. S. Delitzsch, Anecdota zur Geschichte der mittelalterlichen Scholastik unter Juden und Moslemen. Leipzig 1841. p. XIX.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/173>, abgerufen am 27.11.2024.