"Blute entsprossen sey." Dieses verur- sachte eine Kälte von einigen Tagen unter uns beyden; doch unvermerkt erwärmten wir uns wieder. Meine Taute, denke ich, weil sie nach dem alt adelichen Stolz fühlte, wie empfindlich es seyn müsse, wenn einem der Mangel von Ahnen vorge- worfen würde; und ich, weil ich meine rächende Antwort mißbilligte, die mich just auf eben die niedere Stufe setzte, auf welcher mir meine Tante den unedeln Vor- wurf gemacht hatte. Doch es ist Zeit, Sie zu einer von den zwoen Quellen zu führen, wovon ich Jhnen nach meiner Liebe zur Bildersprache geredet habe.
Die erste hat sich in Privatbesuchen gezeigt, welche meine Tante empfängt, und ablegt, worinn ich eine Menge ab- wechselnder Betrachtungen über die un- endliche Verschiedenheit der Charakter und Geister machen kann, die sich in Beurthei- lungen, Erzählungen, Wünschen und Kla- gen abdrücken. Aber was für einen Zirkel von Kleinigkeiten damit durchloffen wird; mit was für Hastigkeit die Leute bemüht
sind,
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„Blute entſproſſen ſey.“ Dieſes verur- ſachte eine Kaͤlte von einigen Tagen unter uns beyden; doch unvermerkt erwaͤrmten wir uns wieder. Meine Taute, denke ich, weil ſie nach dem alt adelichen Stolz fuͤhlte, wie empfindlich es ſeyn muͤſſe, wenn einem der Mangel von Ahnen vorge- worfen wuͤrde; und ich, weil ich meine raͤchende Antwort mißbilligte, die mich juſt auf eben die niedere Stufe ſetzte, auf welcher mir meine Tante den unedeln Vor- wurf gemacht hatte. Doch es iſt Zeit, Sie zu einer von den zwoen Quellen zu fuͤhren, wovon ich Jhnen nach meiner Liebe zur Bilderſprache geredet habe.
Die erſte hat ſich in Privatbeſuchen gezeigt, welche meine Tante empfaͤngt, und ablegt, worinn ich eine Menge ab- wechſelnder Betrachtungen uͤber die un- endliche Verſchiedenheit der Charakter und Geiſter machen kann, die ſich in Beurthei- lungen, Erzaͤhlungen, Wuͤnſchen und Kla- gen abdruͤcken. Aber was fuͤr einen Zirkel von Kleinigkeiten damit durchloffen wird; mit was fuͤr Haſtigkeit die Leute bemuͤht
ſind,
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„Blute entſproſſen ſey.“ Dieſes verur-
ſachte eine Kaͤlte von einigen Tagen unter
uns beyden; doch unvermerkt erwaͤrmten
wir uns wieder. Meine Taute, denke
ich, weil ſie nach dem alt adelichen Stolz
fuͤhlte, wie empfindlich es ſeyn muͤſſe,
wenn einem der Mangel von Ahnen vorge-
worfen wuͤrde; und ich, weil ich meine
raͤchende Antwort mißbilligte, die mich
juſt auf eben die niedere Stufe ſetzte, auf
welcher mir meine Tante den unedeln Vor-
wurf gemacht hatte. Doch es iſt Zeit,
Sie zu einer von den zwoen Quellen zu
fuͤhren, wovon ich Jhnen nach meiner
Liebe zur Bilderſprache geredet habe.
Die erſte hat ſich in Privatbeſuchen
gezeigt, welche meine Tante empfaͤngt,
und ablegt, worinn ich eine Menge ab-
wechſelnder Betrachtungen uͤber die un-
endliche Verſchiedenheit der Charakter und
Geiſter machen kann, die ſich in Beurthei-
lungen, Erzaͤhlungen, Wuͤnſchen und Kla-
gen abdruͤcken. Aber was fuͤr einen Zirkel
von Kleinigkeiten damit durchloffen wird;
mit was fuͤr Haſtigkeit die Leute bemuͤht
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[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 1. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte01_1771/209>, abgerufen am 24.11.2024.
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