Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 1. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

"Blute entsprossen sey." Dieses verur-
sachte eine Kälte von einigen Tagen unter
uns beyden; doch unvermerkt erwärmten
wir uns wieder. Meine Taute, denke
ich, weil sie nach dem alt adelichen Stolz
fühlte, wie empfindlich es seyn müsse,
wenn einem der Mangel von Ahnen vorge-
worfen würde; und ich, weil ich meine
rächende Antwort mißbilligte, die mich
just auf eben die niedere Stufe setzte, auf
welcher mir meine Tante den unedeln Vor-
wurf gemacht hatte. Doch es ist Zeit,
Sie zu einer von den zwoen Quellen zu
führen, wovon ich Jhnen nach meiner
Liebe zur Bildersprache geredet habe.

Die erste hat sich in Privatbesuchen
gezeigt, welche meine Tante empfängt,
und ablegt, worinn ich eine Menge ab-
wechselnder Betrachtungen über die un-
endliche Verschiedenheit der Charakter und
Geister machen kann, die sich in Beurthei-
lungen, Erzählungen, Wünschen und Kla-
gen abdrücken. Aber was für einen Zirkel
von Kleinigkeiten damit durchloffen wird;
mit was für Hastigkeit die Leute bemüht

sind,
M 4

„Blute entſproſſen ſey.“ Dieſes verur-
ſachte eine Kaͤlte von einigen Tagen unter
uns beyden; doch unvermerkt erwaͤrmten
wir uns wieder. Meine Taute, denke
ich, weil ſie nach dem alt adelichen Stolz
fuͤhlte, wie empfindlich es ſeyn muͤſſe,
wenn einem der Mangel von Ahnen vorge-
worfen wuͤrde; und ich, weil ich meine
raͤchende Antwort mißbilligte, die mich
juſt auf eben die niedere Stufe ſetzte, auf
welcher mir meine Tante den unedeln Vor-
wurf gemacht hatte. Doch es iſt Zeit,
Sie zu einer von den zwoen Quellen zu
fuͤhren, wovon ich Jhnen nach meiner
Liebe zur Bilderſprache geredet habe.

Die erſte hat ſich in Privatbeſuchen
gezeigt, welche meine Tante empfaͤngt,
und ablegt, worinn ich eine Menge ab-
wechſelnder Betrachtungen uͤber die un-
endliche Verſchiedenheit der Charakter und
Geiſter machen kann, die ſich in Beurthei-
lungen, Erzaͤhlungen, Wuͤnſchen und Kla-
gen abdruͤcken. Aber was fuͤr einen Zirkel
von Kleinigkeiten damit durchloffen wird;
mit was fuͤr Haſtigkeit die Leute bemuͤht

ſind,
M 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0209" n="183"/>
&#x201E;Blute ent&#x017F;pro&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ey.&#x201C; Die&#x017F;es verur-<lb/>
&#x017F;achte eine Ka&#x0364;lte von einigen Tagen unter<lb/>
uns beyden; doch unvermerkt erwa&#x0364;rmten<lb/>
wir uns wieder. Meine Taute, denke<lb/>
ich, weil &#x017F;ie nach dem alt adelichen Stolz<lb/>
fu&#x0364;hlte, wie empfindlich es &#x017F;eyn mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
wenn einem der Mangel von Ahnen vorge-<lb/>
worfen wu&#x0364;rde; und ich, weil ich meine<lb/>
ra&#x0364;chende Antwort mißbilligte, die mich<lb/>
ju&#x017F;t auf eben die niedere Stufe &#x017F;etzte, auf<lb/>
welcher mir meine Tante den unedeln Vor-<lb/>
wurf gemacht hatte. Doch es i&#x017F;t Zeit,<lb/>
Sie zu einer von den zwoen Quellen zu<lb/>
fu&#x0364;hren, wovon ich Jhnen nach meiner<lb/>
Liebe zur Bilder&#x017F;prache geredet habe.</p><lb/>
          <p>Die er&#x017F;te hat &#x017F;ich in Privatbe&#x017F;uchen<lb/>
gezeigt, welche meine Tante empfa&#x0364;ngt,<lb/>
und ablegt, worinn ich eine Menge ab-<lb/>
wech&#x017F;elnder Betrachtungen u&#x0364;ber die un-<lb/>
endliche Ver&#x017F;chiedenheit der Charakter und<lb/>
Gei&#x017F;ter machen kann, die &#x017F;ich in Beurthei-<lb/>
lungen, Erza&#x0364;hlungen, Wu&#x0364;n&#x017F;chen und Kla-<lb/>
gen abdru&#x0364;cken. Aber was fu&#x0364;r einen Zirkel<lb/>
von Kleinigkeiten damit durchloffen wird;<lb/>
mit was fu&#x0364;r Ha&#x017F;tigkeit die Leute bemu&#x0364;ht<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">M 4</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ind,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[183/0209] „Blute entſproſſen ſey.“ Dieſes verur- ſachte eine Kaͤlte von einigen Tagen unter uns beyden; doch unvermerkt erwaͤrmten wir uns wieder. Meine Taute, denke ich, weil ſie nach dem alt adelichen Stolz fuͤhlte, wie empfindlich es ſeyn muͤſſe, wenn einem der Mangel von Ahnen vorge- worfen wuͤrde; und ich, weil ich meine raͤchende Antwort mißbilligte, die mich juſt auf eben die niedere Stufe ſetzte, auf welcher mir meine Tante den unedeln Vor- wurf gemacht hatte. Doch es iſt Zeit, Sie zu einer von den zwoen Quellen zu fuͤhren, wovon ich Jhnen nach meiner Liebe zur Bilderſprache geredet habe. Die erſte hat ſich in Privatbeſuchen gezeigt, welche meine Tante empfaͤngt, und ablegt, worinn ich eine Menge ab- wechſelnder Betrachtungen uͤber die un- endliche Verſchiedenheit der Charakter und Geiſter machen kann, die ſich in Beurthei- lungen, Erzaͤhlungen, Wuͤnſchen und Kla- gen abdruͤcken. Aber was fuͤr einen Zirkel von Kleinigkeiten damit durchloffen wird; mit was fuͤr Haſtigkeit die Leute bemuͤht ſind, M 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte01_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte01_1771/209
Zitationshilfe: [La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 1. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte01_1771/209>, abgerufen am 24.11.2024.