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Langemann, Ludwig; Hummel, Helene: Frauenstimmrecht und Frauenemanzipation. Berlin, 1916.

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Der Materialismus hat unter den erwerbenden
Frauen viel mehr um sich gegriffen als unter den Männern,
wirtschaftliche Vorteile hat die Frauenbewegung in hohem
Maße den Frauen gebracht, für den sittlichen Ernst
der Frauen und für ihr wahres Glück ist wenig dabei ab-
gefallen. Wenn man morgens in der Großstadt Hundert-
tausende junger Mädchen bleich und müde in die staubigen
Warenhäuser, die lärmenden Fabriken und dunklen Kontore
fluten sieht, so fragt man sich erstaunt: ist denn das nun
das neue Frauenglück? Gabriele Reuter sagte einmal in
einem Vortrage: "Wir Frauen wollen ja gar kein Glück,
wir wollen nur höhere Daseinsformen!" Das stimmt
nicht, der Mensch will zuerst einmal sein Glück, und wo
er dies Glück sucht, das bestimmt den Wert seiner
Persönlichkeit. Wenn aber Frauenrechtlerinnen glauben,
daß die abgehetzten, bleichsüchtigen, erwerbenden Mädchen
von der Akademikerin herunter bis zum Fabrikmädchen
nun in höheren Daseinsformen lebten als das Mädchen,
das vom 14. oder 16. bis zum 20. Lebensjahre im
elterlichen Haushalt hilft, Geist und Gemüt bildet, gesund
und stark und dann später eine schaffende Frau und
Mutter wird - so mag man ihren Jrrtum damit ent-
schuldigen, daß sie selbst zum allergrößten Teil ledige
Frauen sind, in der Entwickelung stehen blieben und nie zu
voller Menschenblüte gelangten, und daß ihr Urteil über
Frauenglück deshalb nicht maßgebend sein kann. Zwar
können in dieser Zeit, besonders in der Großstadt, nicht
alle ein Haustochterleben führen, aber eine gesunde Frauen-
politik könnte in großem Umfange Verhältnisse schaffen,
die die Mädchen nicht sofort nach der Schule in einen

Der Materialismus hat unter den erwerbenden
Frauen viel mehr um sich gegriffen als unter den Männern,
wirtschaftliche Vorteile hat die Frauenbewegung in hohem
Maße den Frauen gebracht, für den sittlichen Ernst
der Frauen und für ihr wahres Glück ist wenig dabei ab-
gefallen. Wenn man morgens in der Großstadt Hundert-
tausende junger Mädchen bleich und müde in die staubigen
Warenhäuser, die lärmenden Fabriken und dunklen Kontore
fluten sieht, so fragt man sich erstaunt: ist denn das nun
das neue Frauenglück? Gabriele Reuter sagte einmal in
einem Vortrage: „Wir Frauen wollen ja gar kein Glück,
wir wollen nur höhere Daseinsformen!“ Das stimmt
nicht, der Mensch will zuerst einmal sein Glück, und wo
er dies Glück sucht, das bestimmt den Wert seiner
Persönlichkeit. Wenn aber Frauenrechtlerinnen glauben,
daß die abgehetzten, bleichsüchtigen, erwerbenden Mädchen
von der Akademikerin herunter bis zum Fabrikmädchen
nun in höheren Daseinsformen lebten als das Mädchen,
das vom 14. oder 16. bis zum 20. Lebensjahre im
elterlichen Haushalt hilft, Geist und Gemüt bildet, gesund
und stark und dann später eine schaffende Frau und
Mutter wird – so mag man ihren Jrrtum damit ent-
schuldigen, daß sie selbst zum allergrößten Teil ledige
Frauen sind, in der Entwickelung stehen blieben und nie zu
voller Menschenblüte gelangten, und daß ihr Urteil über
Frauenglück deshalb nicht maßgebend sein kann. Zwar
können in dieser Zeit, besonders in der Großstadt, nicht
alle ein Haustochterleben führen, aber eine gesunde Frauen-
politik könnte in großem Umfange Verhältnisse schaffen,
die die Mädchen nicht sofort nach der Schule in einen

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[139/0141] Der Materialismus hat unter den erwerbenden Frauen viel mehr um sich gegriffen als unter den Männern, wirtschaftliche Vorteile hat die Frauenbewegung in hohem Maße den Frauen gebracht, für den sittlichen Ernst der Frauen und für ihr wahres Glück ist wenig dabei ab- gefallen. Wenn man morgens in der Großstadt Hundert- tausende junger Mädchen bleich und müde in die staubigen Warenhäuser, die lärmenden Fabriken und dunklen Kontore fluten sieht, so fragt man sich erstaunt: ist denn das nun das neue Frauenglück? Gabriele Reuter sagte einmal in einem Vortrage: „Wir Frauen wollen ja gar kein Glück, wir wollen nur höhere Daseinsformen!“ Das stimmt nicht, der Mensch will zuerst einmal sein Glück, und wo er dies Glück sucht, das bestimmt den Wert seiner Persönlichkeit. Wenn aber Frauenrechtlerinnen glauben, daß die abgehetzten, bleichsüchtigen, erwerbenden Mädchen von der Akademikerin herunter bis zum Fabrikmädchen nun in höheren Daseinsformen lebten als das Mädchen, das vom 14. oder 16. bis zum 20. Lebensjahre im elterlichen Haushalt hilft, Geist und Gemüt bildet, gesund und stark und dann später eine schaffende Frau und Mutter wird – so mag man ihren Jrrtum damit ent- schuldigen, daß sie selbst zum allergrößten Teil ledige Frauen sind, in der Entwickelung stehen blieben und nie zu voller Menschenblüte gelangten, und daß ihr Urteil über Frauenglück deshalb nicht maßgebend sein kann. Zwar können in dieser Zeit, besonders in der Großstadt, nicht alle ein Haustochterleben führen, aber eine gesunde Frauen- politik könnte in großem Umfange Verhältnisse schaffen, die die Mädchen nicht sofort nach der Schule in einen

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Zitationshilfe: Langemann, Ludwig; Hummel, Helene: Frauenstimmrecht und Frauenemanzipation. Berlin, 1916, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/langemann_frauenstimmrecht_1916/141>, abgerufen am 23.11.2024.