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Lange, Helene: Die höhere Mädchenschule und ihre Bestimmung. Berlin, 1887.

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daraus, wie Luise Büchner, die seinerzeit vom Kultusministe-
rium zu einem Urteil über die "Protokolle etc." aufgefordert
wurde, mit Recht bemerkt, "ein Bestreben des Abschließens,
des Fertigmachens, welches zu nichts Lebendigem führen
kann", "Stoff und Lernzeit decken sich nicht", und fast bei
jedem Lehrgegenstand möchte man ein Zu viel! ausrufen1).
Das junge Mädchen soll bis zu seinem 16ten Jahre (es
kann ja möglicherweise im folgenden dafür sorgen müssen,
daß der deutsche Mann sich nicht langweilt), alles "gehabt
haben", was den wesentlichen Inhalt der allgemeinen Bil-
dung ausmacht, da eine Fortbildung, wenn auch als wün-
schenswert, so doch nicht als obligatorisch2), nicht als Sache
der Schule angesehen wurde. So mußte denn vieles, was
seinem eigentlichsten Gehalt nach den Kindern noch unzu-
gänglich war, in Form von fertigen Urteilen gegeben wer-
den, und eine "Übersicht" mußte häufig die Stelle der
Einsicht vertreten. So war in dem Lehrprogramm schon
von vornherein die Treibhauspflanze gegeben, als die nach
dem allgemeinen Urteil unsere jungen Mädchen heute die
Schule verlassen. Nicht umsonst ist die "höhere Tochter"
zum Stichblatt des Witzes geworden. "Halb, halb, halb!"
dieses Wort möchte Luise Büchner über jede deutsche
Mädchenschule schreiben, bis es endlich ein Herz erbarmte.
Wenn man bis zum 16. Jahre Menschen "fertig machen"
will, so kann nur ein homunculus zu stande kommen.

Es sind schwere Anklagen, die wir gegen die höhere
Mädchenschule ausgesprochen haben; aber wer hat den
Mut zu sagen, daß sie unwahr sind, wer den Mut zu be-
haupten, daß die Schule zu edlen, in sich harmonischen
Persönlichkeiten den Grund lege, wie es das Weimarer
Programm verheißt? zu behaupten, daß die Wissenschaft,

1) Luise Büchner, die Frau, Berlin 1878. S. 49, 54.
2) Wenn auch von einem Schulzwang über das 14. Jahr hinaus
nicht die Rede sein kann, so giebt es doch einen Zwang der öffentlichen
Meinung, der hierfür leicht zu gewinnen wäre.

daraus, wie Luise Büchner, die seinerzeit vom Kultusministe-
rium zu einem Urteil über die „Protokolle ꝛc.“ aufgefordert
wurde, mit Recht bemerkt, „ein Bestreben des Abschließens,
des Fertigmachens, welches zu nichts Lebendigem führen
kann“, „Stoff und Lernzeit decken sich nicht“, und fast bei
jedem Lehrgegenstand möchte man ein Zu viel! ausrufen1).
Das junge Mädchen soll bis zu seinem 16ten Jahre (es
kann ja möglicherweise im folgenden dafür sorgen müssen,
daß der deutsche Mann sich nicht langweilt), alles „gehabt
haben“, was den wesentlichen Inhalt der allgemeinen Bil-
dung ausmacht, da eine Fortbildung, wenn auch als wün-
schenswert, so doch nicht als obligatorisch2), nicht als Sache
der Schule angesehen wurde. So mußte denn vieles, was
seinem eigentlichsten Gehalt nach den Kindern noch unzu-
gänglich war, in Form von fertigen Urteilen gegeben wer-
den, und eine „Übersicht“ mußte häufig die Stelle der
Einsicht vertreten. So war in dem Lehrprogramm schon
von vornherein die Treibhauspflanze gegeben, als die nach
dem allgemeinen Urteil unsere jungen Mädchen heute die
Schule verlassen. Nicht umsonst ist die „höhere Tochter“
zum Stichblatt des Witzes geworden. „Halb, halb, halb!“
dieses Wort möchte Luise Büchner über jede deutsche
Mädchenschule schreiben, bis es endlich ein Herz erbarmte.
Wenn man bis zum 16. Jahre Menschen „fertig machen“
will, so kann nur ein homunculus zu stande kommen.

Es sind schwere Anklagen, die wir gegen die höhere
Mädchenschule ausgesprochen haben; aber wer hat den
Mut zu sagen, daß sie unwahr sind, wer den Mut zu be-
haupten, daß die Schule zu edlen, in sich harmonischen
Persönlichkeiten den Grund lege, wie es das Weimarer
Programm verheißt? zu behaupten, daß die Wissenschaft,

1) Luise Büchner, die Frau, Berlin 1878. S. 49, 54.
2) Wenn auch von einem Schulzwang über das 14. Jahr hinaus
nicht die Rede sein kann, so giebt es doch einen Zwang der öffentlichen
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[16/0017] daraus, wie Luise Büchner, die seinerzeit vom Kultusministe- rium zu einem Urteil über die „Protokolle ꝛc.“ aufgefordert wurde, mit Recht bemerkt, „ein Bestreben des Abschließens, des Fertigmachens, welches zu nichts Lebendigem führen kann“, „Stoff und Lernzeit decken sich nicht“, und fast bei jedem Lehrgegenstand möchte man ein Zu viel! ausrufen 1). Das junge Mädchen soll bis zu seinem 16ten Jahre (es kann ja möglicherweise im folgenden dafür sorgen müssen, daß der deutsche Mann sich nicht langweilt), alles „gehabt haben“, was den wesentlichen Inhalt der allgemeinen Bil- dung ausmacht, da eine Fortbildung, wenn auch als wün- schenswert, so doch nicht als obligatorisch 2), nicht als Sache der Schule angesehen wurde. So mußte denn vieles, was seinem eigentlichsten Gehalt nach den Kindern noch unzu- gänglich war, in Form von fertigen Urteilen gegeben wer- den, und eine „Übersicht“ mußte häufig die Stelle der Einsicht vertreten. So war in dem Lehrprogramm schon von vornherein die Treibhauspflanze gegeben, als die nach dem allgemeinen Urteil unsere jungen Mädchen heute die Schule verlassen. Nicht umsonst ist die „höhere Tochter“ zum Stichblatt des Witzes geworden. „Halb, halb, halb!“ dieses Wort möchte Luise Büchner über jede deutsche Mädchenschule schreiben, bis es endlich ein Herz erbarmte. Wenn man bis zum 16. Jahre Menschen „fertig machen“ will, so kann nur ein homunculus zu stande kommen. Es sind schwere Anklagen, die wir gegen die höhere Mädchenschule ausgesprochen haben; aber wer hat den Mut zu sagen, daß sie unwahr sind, wer den Mut zu be- haupten, daß die Schule zu edlen, in sich harmonischen Persönlichkeiten den Grund lege, wie es das Weimarer Programm verheißt? zu behaupten, daß die Wissenschaft, 1) Luise Büchner, die Frau, Berlin 1878. S. 49, 54. 2) Wenn auch von einem Schulzwang über das 14. Jahr hinaus nicht die Rede sein kann, so giebt es doch einen Zwang der öffentlichen Meinung, der hierfür leicht zu gewinnen wäre.

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Zitationshilfe: Lange, Helene: Die höhere Mädchenschule und ihre Bestimmung. Berlin, 1887, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lange_maedchenschule_1887/17>, abgerufen am 28.03.2024.